„Pressevielfalt“? Gebt uns eine wie im Kaiserreich! Über die Sargnägel der vielbeschworenen Meinungsvielfalt

Ein Gastbeitrag von Wolfgang Röhl

Ob es wohl noch Leute gibt, die sich an den berühmtesten Satz von Paul Sethe erinnern? Nicht viele, vermutlich, da kaum noch jemand diesen einstmals prominenten Publizisten (1901–1967) kennen dürfte. Er war, wie mancher seiner Klasse und Profession, als Schreiber zeitweise ein bisschen nazi. Schaffte es nach dem Krieg dennoch (oder womöglich auch deshalb) in die Beletage des neuen westdeutschen Zeitungswesens.

Wurde einer der Gründungsherausgeber der F.A.Z., trat bald wegen Adenauers Westbindungskurs zurück, dem seine Mitherausgeber sekundierten. Schrieb dann für die Welt, die Zeit, den Stern. Immer der konservative Knochen. Harter Blick, strenges Geistesgeschirr, wenn man Fotos von ihm küchenpsychologisch interpretieren möchte. Sethe war eine Gestalt. Ein Mann aus seinen Zeitläuften, gewiss. Auf jeden Fall aber ein großer Stilist.

Nun zum Satz, der ihn erinnerungsmäßig überlebt hat. Der stand in keinem seiner Essays, in keinem Artikel, sondern in einem Leserbrief, den Sethe zwei Jahre vor seinem Tod dem Spiegel geschickt hatte. Der Satz lautet:

„Die Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“

War das nicht unerhört? Jedenfalls so noch nicht gehört – nicht aus dem Mund eines dezidiert Konservativen.

Anzunehmen ist, dass der publizistische Profi Sethe mit Pressefreiheit recht eigentlich Pressevielfalt meinte. Die theoretische Freiheit, etwas zu veröffentlichen, stand ja in der Bundesrepublik nie zur Debatte. Es ging um die Frage, wer dazu praktisch in der Lage war.

Es sind die Produktionsmittel, stupid!

Was für ein Affront, dieser Spruch. Im Jahre 1965 waren die meisten Zeitgenossen, wenn man vom jungen, linken, die „Bewusstseins-Industrie“ elegant dekonstruierenden Hans Magnus Enzensberger absah, grosso modo der Ansicht, in einer vielfältigen, buntdurchmischten Medienlandschaft zu leben. Hier konnten Familien Kaffee kochen, hier fand jeder Topf einen Deckel, oder?

Sethes Satz wurde seither immer wieder zitiert, wenn es darum ging, wie eine Meinung in einem Kopf entsteht. Natürlich wurde er besonders von Linken zitiert. Es sind die Produktionsmittel, stupid! Der Linken gefiel die Sentenz auch deshalb so gut, weil sie damit einen unverdächtigen, „rechten“ Kronzeugen für ihre Ansicht hatte, der Kapitalismus habe sich auch die Hirne der Menschen angeeignet, vernebele sie nach Kräften für seine schändlichen Zwecke.

Es wurde nie richtig klar, wen Sethe mit den zweihundert Reichen eigentlich gemeint hatte. Die Verleger von Überregionalen, regionalen, lokalen Blättern, welche damals sämtlich noch voll im Ertragssaft standen? Gefürchtete Magazinmacher wie Rudolf Augstein, hemdsärmelige Illustriertenbosse wie Henri Nannen? Gewiefte Intellektuelle? Männer hinter kleinen, aber hochkarätigen, manchmal sehr einflussreichen Kulturperiodika wie Der Monat? In letzterem Fall hätte der Begriff „reich“ die Sache ebenfalls getroffen. Der Monat war, wie sich später herausstellte, eine großzügig subventionierte, durchaus wirkungsmächtige Unteragentur der CIA.

Der Staatsfunk war mal eine ziemlich liberale Veranstaltung

Nehmen wir mal an, dass Sethe recht hatte. Dann hätten zweihundert Betuchte anno 1965 eine Presselandschaft beackert, die ziemlich divers gesät war. Welt und Frankfurter Rundschau standen sich auf Augenhöhe gegenüber. Neben dem mählich nach Backbord driftenden Stern lag am Kiosk die fast ebenso auflagenstarke, deutlich konservativere Quick.

Es gab Unikate wie Spiegel und Bild, politisch Lichtjahre auseinander. Wobei sogar die – auf Bundesebene übermächtige – Bild an verschiedenen Standorten starke Boulevard-Konkurrenten hatte, etwa die SPD-nahe Hamburger Morgenpost, den ebenfalls sozenaffinen Kölner Express oder die linksliberale Abendzeitung aus München. Und auf dem weiten Feld der Regional- und Lokalanzeiger tummelten sich manchmal skurrile Erscheinungen.

Kleine Citizen Kanes, die sich in ihrem begrenzten Ruhm sonnten und gelegentlich mit den Matadoren der örtlichen Politik heftig zankten. Von diesem Geist ist nichts, null, verblieben. Lokalblätter plappern heute nur mehr nach, was die Landespolitik vorgibt. Nie wurde das so deutlich wie während der Pandemie.

Die neue Kollektion

Was mich betrifft, so wäre ich nicht unglücklich, würden zweihundert meinetwegen auch reiche Leute auferstehen und sich der Presse bemächtigen. Jene Presse, die sich immer noch tapfer als eine auf eigenes Risiko wirtschaftende versteht, obwohl sie zunehmend am Staatstropf hängt. Vom staatlich („öffentlich-rechtlich“) verordneten Radio und Fernsehen soll hier nicht die Rede sein. Sethe hatte das private Mediengeschäft kritisiert. Der Staatsfunk war zu seiner Zeit, man mag es kaum glauben, noch eine ziemlich liberale Veranstaltung.

Käseblätter legen sich den Anschein von vollwertigen Zeitungen zu

Heute kommt der größte Teil der veröffentlichten Nachrichten, die nicht aus dem lokalen Ameisenbereich stammen („Ist ein ungünstig gelegenes Bushäuschen besser als gar keins?“), von wenigen Zentralredaktionen und Agenturen. Dass Meldungen der Deutschen Presse Agentur, leicht umformuliert oder pur, mit dpa-Kürzel am Schluss oder auch ohne Quellenangabe, einen großen Teil dessen ausmachen, was Radio, Holz- und Internetmedien bringen, ist ein alter Hut.

Ebenso, dass unterschiedliche Lokalzeitungen gewöhnlich in ein und denselben Zeitungsmantel eingewickelt sind. Sie waren selbstredend immer außerstande, eigene Korrespondenten in der Hauptstadt zu unterhalten, Theaterpremieren in den Metropolen zu besuchen oder Auslandsreporter zu beschäftigen. Also produzieren zentrale Redaktionen für sie einen Mantelteil aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Womit die Käseblätter sich den Anschein von vollwertigen Zeitungen zulegen.

Beispiel aus meinem Beritt: Die Redaktionsgemeinschaft Nordsee beliefert außer der Nordsee-Zeitung sechs weitere Kunden in der Region. Heißt, sämtliche Blätter im Elbe-Weser-Dreieck servieren im überlokalen Teil denselben Brei aus Bremerhaven. Das hat eine lange Tradition, war nie sehr weit entfernt von DDR-Verhältnissen.

Zentralredaktionen sorgen für Reichweite

Relativ neu hingegen ist der Vormarsch der Zentralredaktionen. Die verschachtelte Funke-Mediengruppe, hervorgegangen aus der mit der nordrhein-westfälischen SPD verfilzten WAZ-Gruppe, betreibt seit 2015 in Berlin eine Zentralredaktion. Welche sämtliche Medien des Konzerns „mit Inhalten versorgt“, wie eine lustige Formulierung besagt. Funke gewinnt dadurch ständig Medienmacht hinzu. Politiker, Wirtschaftsgrößen und Promis können mit einem einzigen Interview oder durch geleakte Infos massenhaft Menschen erreichen.

Für kleine, konzernunabhängige Spieler dagegen wird die Luft immer dünner. Wer wird schon, sagen wir, dem Cicero ein Interview geben oder ihm etwas durchstechen, wenn er mit demselben Zeitaufwand auf einen Schlag fünfzigmal so viele Leser bekommt? Wenn ein Satz, den der Interviewte unbedingt streuen wollte, tatsächlich dank eines Netzwerks subito quer durchs Land rauscht?

„Es gibt keinen Mangel an Vielstimmigkeit, aber Vielstimmigkeit darf nicht mit Vielfalt verwechselt werden“, hatte mal Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios, bemerkt. Für das Haupt einer Sendergruppe, welcher selber die Vielfalt abhanden kam, eine erstaunliche Erkenntnis.

RND beliefert fast 60 Zeitungen mit Politik & Gedöns

Die zweite Krake im deutschen Medienpool heißt RND. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland sitzt in Hannover und beliefert fast 60 mittlere und kleine Zeitungen mit Politik & Gedöns. Auch das RND wird mittlerweile sehr oft zitiert, bildet eine Medienmacht, die anderen die Luft abschnürt. RND kriegt so gut wie jeden, den es interviewen will. Wer die üblichen Worthülsen auswerfen will, fliegt auf dieses Netzwerk.

Die Redaktion in Hannover gehört zum Medienkonzern Madsack. Die größte Kommanditistin des Konzerns ist – Überraschung! – die gute alte SPD mit 23,1 Prozent. Sie hält die Anteile über die „Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft“, ein überkommenes Medienbeteiligungsunternehmen der Partei. Über deren Interesse an Zeitungen gab einst Inge Daniel-Wettigmeier, langjährige SPD-Schatzmeisterin, freimütig Auskunft (zitiert nach der Neuen Zürcher Zeitung): „Auch dort, wo wir nur 30 oder 40 Prozent haben, kann in der Regel nichts ohne uns passieren.“

Paul Sethe hätte nicht bloß von reichen Leuten, sondern auch von reichen Gruppierungen sprechen sollen.

Wie eine Karikatur der herrschenden Verhältnisse wirkt da ein Foto, das bei einem Festakt zum 125-jährigen Madsack-Geburtstag entstand. Gerahmt von zwei Managern des Konzerns lächeln die Genossen Stephan Weil (Ministerpräsident von Niedersachsen) und Frank-Walter Steinmeier (Bundespräsident) in die Kameras. Natürlich fand das Bild in allen Medien statt, die Madsack bespielt.

Internet-Schrottsammelstelle T-Online

Ein weiterer Nagel am Sarg der vielbeschworenen Meinungsvielfalt ist das Portal T-Online, das seit 2015 dem Werbevermarkter Ströer Media gehört. (Ströer ist jene Firma, die deutsche Innenstädte mit flackernden Billboards verschandelt.) Ursprünglich gehörte es zur Deutschen Telekom, und man darf darauf wetten, dass viele der Nutzer glauben, bei einem Ableger der Telefonfirma gelandet zu sein.

Dabei ist T-Online eigentlich nur eine typische Internet-Schrottsammelstelle, wo schlecht bezahlte Onlineschrubber unablässig Müll übereinanderschaufeln, von Nachrichtensurrogaten („Die rätselhaften Todesfälle russischer Wirtschaftsbosse“) über Promiquark („Michelle Hunziker: Zurück zum Ex?“) bis zu Dog-Content („Fünf Dinge, die Hunde gar nicht leiden können“).

Da das Portal geistig barrierefrei und zudem durchgehend kostenlos ist – Ströer geht es vor allem um Reichweite –, zählt es zu den meistgeklickten „redaktionellen Medienmarken“, zusammen mit den Onlineangeboten von Bild, n-tv, Welt und Focus. Es erreichte schon 2017 fast 30 Millionen Menschen im Monat, Tendenz immerfort steigend. So strunzdoof es zumeist auch anmutet, ideologiefrei ist es keineswegs. T-Online-Chef Florian Harms war Leiter von Spiegel Online, bis er sich mit den Hamburgern über redaktionelle Strategien verkrachte und bei Ströer sein eigenes Ding aufzog.

Ein Leuchtturm der Einfalt, die sich als Vielfalt ausgibt

Hier leitartikelt er rauf und runter, faul ist er nicht.

Die neue italienische Regierung ist ein „Horrorkabinett“, die „Erderhitzung“ hat „verheerende Folgen“, „Impfungen schützen“. Achtung, Deutschland stehen schwere Zeiten bevor, denn: „Gegner der Corona-Regeln, Reichsbürger, AfD-Dumbatzel, selbsternannte Freiheitskämpfer und Verschwörungsapostel verbünden sich mit Esoterikern, Frustrierten und Ewigempörten und blasen zum Kampf gegen den Staat.“

Harms schwimmt perfekt mit dem Medienmainstream, nimmt dafür aber den Usern erfreulicherweise kein Geld ab. Das macht den Erfolg von T-Online aus. Der Branchendienst Kress ernannte ihn Anfang 2022 zum „Chefredakteur des Jahres (Digital)“. Begründung: Harms habe „dem Vergnügungsdampfer T-Online ein Oberdeck hinzugefügt, auf dem politisch relevanter Journalismus einen festen Platz hat.“

Der nächste Preis der „Bundeszentrale für politische Bildung“ gebührt fraglos dem relevanten Unterhaltungsdampferkapitän Harms. Der Mann ist, um das Zitat des oben erwähnten Intendanten fortzuschreiben, ein Leuchtturm der Einfalt, die sich als Vielfalt ausgibt.

Harter Meinungskampf im Reich von Wilhelm Zwo

Ach, man könnte sich die Weimarer Republik zurückwünschen, wenn man unsere Medienlandschaft anschaut. Oder gleich das Kaiserreich? Eine „starke und sehr freie Presse“ habe es da gegeben, konstatierte mal Deutschlandfunk Kultur. Tatsächlich gab es 1891, drei Jahre nach Beginn der Regentschaft von Wilhelm II., bereits 2.586 Blätter. Bis 1914 stieg die Zahl auf 3.716 an. Und nicht eines dieser Presswerke wurde von Content-Schleudern befüttert. Ein Mantel war damals bloß ein Kleidungsstück.

Jede Partei, jede wirtschaftliche Gruppierung, jede religiöse und kulturelle Strömung gab Organe heraus, in der eigene Interessen vehement vertreten wurden. Da wurde argumentiert, polemisiert, recherchiert, denunziert, verklärt und entzaubert; schmutzige Wäsche an Licht gezerrt, Politiker zum Rücktritt getrieben.

Der Meinungskampf war weitaus härter als das, was heutzutage unter den Wieselbegriff „breiter gesellschaftlicher Diskurs“ fällt. Dessen Bandbreite in Wahrheit sehr schmal geworden ist.

Wegen Majestätsbeleidigung attackiert und gerade deshalb erfolgreich

Spätestens ab 1890 war auch der Kaiser nicht mehr sakrosankt. Wurden Blätter wegen Majestätsbeleidigung für ein Weilchen verboten oder freche Redakteure eingebuchtet, schossen die Auflagen hernach in die Höhe. Die Spiegel-Affäre, Rudolf Augsteins Himmelsgeschenk, sie hatte frühe Vorläufer.

Der Historiker Christopher Clark beschreibt in seiner Wilhelm II.-Biografie ausführlich auch die Rolle der Presse im Kaiserreich. Clark steht seit seiner etwas anderen Analyse der Vorläufe der Ersten Weltkriegs auf der Shitliste von den – zumeist sozialdemokratisch grundierten – Anhängern der These, Deutschland sei allein oder hauptsächlich schuld am Krieg gewesen.

Vielleicht mit ein Grund, warum er einer Stelle seines epischen Wilhelm II.-Werkes eine kurze, spitze Bemerkung einschiebt, wie beiseite gesprochen. Die Meinungsvielfalt, so der australisch-stämmige, in England lehrende Clark sinngemäß, sei in der Wilhelminischen Ära zeitweise wohl größer gewesen als im Deutschland der Gegenwart.

Interessante Betrachtung. Darauf wäre sogar ein Erzkonservativer wie Paul Sethe wohl nicht gekommen.

Mein aktuelles Video:

Gesinnungsjustiz? Professor Bhakdi muss auf die Anklagebank – wegen angeblicher Volksverhetzung

YouTube player

Dieser Beitrag erschien zuerst auf achgut.com. Ich danke den Kollegen dort für ihre Solidarität und die Genehmigung zum Abdruck dieses Beitrags – ich finde ihn so brillant und wichtig, dass ich ihn Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ungern vorenthalten hätte.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Wolfgang Röhl, geboren 1947 in Stade, studierte Literatur, Romanistik und Anglistik. Ab 1968 Journalist für unterschiedliche Publikationen, unter anderem 30 Jahre Redakteur und Reporter beim “Stern”. Intensive Reisetätigkeit mit Schwerpunkt Südostasien und Lateinamerika. Autor mehrerer Krimis (zuletzt: “Brand Marken”). Lebt in Niedersachsen und Hamburg.

Bild: Shutterstock

Mehr zum Thema auf reitschuster.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert