Von Ekaterina Quehl
Seit kurzem können sich viele Menschen in Deutschland etwas entspannen und wieder am Leben oder wenigstens an einigen Lebensbereichen fast uneingeschränkt teilhaben. Die Lockerung der Corona-Maßnahmen soll in vollem Gange sein. Doch bei den Kindern will die Regierung einfach nicht locker lassen. Masken- und Testpflicht bleiben an deutschen Schulen und Kitas überwiegend erhalten.
Seit nun zwei Jahren – und für manche Kinder kann es ein Drittel ihrer Lebenszeit bedeuten – ist der Kinderalltag nur noch durch die Einhaltung von Corona-Regeln als Dauerschleife definiert: Test, Abwarten, Abstand halten, Hände waschen, Maske tragen, ggf. Quarantäne, Test, Maske tragen, Abstand halten … Über die gravierenden Folgen eines solchen Kinderlebens haben wir bereits mehrfach berichtet. Doch Depressionen, psychosomatische Störungen und das Leid der Kinder scheinen für die Politiker nicht Grund genug zu sein, um sie einfach ihre Kindheit leben zu lassen.
Viele Ärzte, Kinderschützer und betroffene Eltern haben sich bereits mehrfach mit Unmut über den Umgang mit Kindern in der Corona-Pandemie geäußert. Nun schlägt eine weitere Stimme Alarm. Stefan Godehardt-Bestmann, Professor am Europäischen Institut für Sozialarbeitsforschung, wendet sich mit einem offenen Brief an die Regierende Bürgermeisterin von Berlin Franziska Giffey, die Schulsenatorin Astrid-Sabine Busse und an Ulrike Gote, Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung.
Hier können Sie nun den Brief in voller Länge lesen.
Sehr geehrte Frau Regierende Bürgermeisterin Giffey, sehr geehrte Frau Senatorin Busse, sehr geehrte Frau Senatorin Gote,
die Corona-Pandemie und die damit in Deutschland einhergehenden politischen Maßnahmen gehen nunmehr ins dritte Jahr, eine insbesondere für Kinder und Jugendliche ausgesprochen lange Lebenszeit. Die wissenschaftliche Datenlage zeigt gleichwohl gerade für Kinder und durchaus auch für Jugendliche keine besonders schwerwiegenden Krankheitsverläufe (bspw. Say et al 20211; Loske et al. 20212). Zudem sind die Long-Covid-Erkenntnisse bezogen auf die Heranwachsenden in Bezug auf eine somatische Covid-Erkrankung wissenschaftlich umstritten und nicht eindeutig (vgl. Zimmermann et al. 20213). Zu Beginn der Pandemie- Maßnahmen wurde maßgeblich aus Solidaritätsbegründungen gerade auch die junge Generation zu deutlichem Verzicht und schwerwiegenden Einschränkungen aufgefordert. Es bestehen zahlreiche seriöse Studien, die schwerwiegende psychische und durchaus somatische Folgeschäden für unsere Kinder und Jugendlichen aufgrund der schwerwiegenden Einschränkungen benennen (bspw. COPSY-Studie4; Bujard 20215).
Mittlerweile ist die Ausgangslage eine durchaus andere als in 2020. Der Großteil der älteren Bevölkerung, sofern keine medizinischen Gründe dagegensprechen, hat verschiedene Optionen des Eigenschutzes. Die in Schulen beschäftigten Personen können ihren individuellen Eigenschutz bspw. durch freiwilliges Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung, durch Abstand halten und entsprechende Belüftungssysteme sowie je nach persönlicher Einschätzung durch eine Impfung sich entsprechend schützen. Die Lage des Gesundheitssystems hat sich nach seriösen Datenquellen verschiedener Fachverbände und Gesellschaften normalisiert, was in deren Bedrohung die einzige Grundlage für die Einschränkung von Grundrechten und eben auch dem auf Bildung rechtfertigt (bspw. Deutsche Krankenhausgesellschaft Gaß 20226; Deutscher Hauärzteverband 20227).
Es besteht daher keine wissenschaftlich und faktisch begründbare Argumentation, dass Kinder und Jugendliche regelmäßig getestet werden müssen und dass sie täglich eine Maske tragen. Sobald Kinder Symptome zeigen, kann anlassbezogen und im Einzelfall begründet dies medizinisch überprüft werden, sowie bisher bei anderen Symptomen und Erkrankungen. Dies minimiert die psychischen Folgebelastungen unserer Kinder und Jugendlichen deutlich.
Zudem wird die Privatsphäre auf den uneingeschränkten Datenschutz bezogen auf medizinische Aspekte wieder gewahrt!
Die täglichen Tests mit der stetigen Befürchtung eines positiven Ergebnisses und den damit verbundenen Folgen im Alltag bspw. durch eine Quarantäneanordnung sind eine für Kinder und Jugendliche starke psychische Belastung. Zudem sind die durchaus vorhandenen und damit einhergehenden Stigmatisierungserlebnisse der Heranwachsenden bspw. durch negativ konnotierte Gruppenetikettierungen in Medien und der Politik als „Virenschleudern“, „Corona-Party-Feiernden“ und „Abstands-Regeln-Verletzenden“ schwerwiegend (vgl. Voigts 20208).All dies hat erhebliche gesundheitliche Folgen für die Heranwachsenden, die in keinem Vergleich zu den faktischen Gesundheitsfolgen der Sars-Covid-Infektionen bei Kindern und Jugendlichen stehen. Die Situation sowohl der faktischen Rahmenbedingungen als auch der wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie maßgeblich des politischen Wissens darüber hat sich in den vergangenen zwei Jahren deutlich gewandelt. Wie Mitglieder des Expert:innenrates der Bundesregierung durchaus schon geraume Zeit argumentieren, muss unsere Gesellschaft lernen, mit diesem Virus zu leben und zwar in einem Normal- und nicht in einem Ausnahmemodus.
Das medizinische System ist nicht mehr, zumindest aus der Covid-Begründung heraus, in seiner Funktionsfähigkeit gefährdet, es bestehen bei Bedarf ausreichende individuelle Schutzmaßnahmen für die ältere Bevölkerungsgruppe und Kinder und Jugendliche sind gesundheitlich durch eine Sars-Covid-Infektion nicht außergewöhnlich bedroht. Es gibt faktisch keine seriöse Begründung für einen Ausnahmezustand, der zudem wie benannt massive gesundheitliche sowie bildungsbiografische Folgeschäden insbesondere für unsere junge Generation mit sich bringt.
Sie als Regierende Bürgermeisterin sowie als Fachsenatorinnen tragen durch die nach wie vor bestehende Test- und Maskenpflicht für die Kinder und Jugendlichen die Verantwortung für die Lebenssituationen der Kinder und Jugendlichen in Berlin. Das ist zwar eine politische Entscheidung, die gleichwohl eine evidenzbasierte und wissenschaftliche Perspektive bezogen auf die massiven Folgen und Schädigungen für die Heranwachsenden in unserer Stadt nicht unberücksichtigt lassen darf.
Ich appelliere an Ihre politische Verantwortlichkeit und fordere Sie inständig auf, die täglichen Antigen-Schnell-Tests und das Maske-Tragen an den Berliner Schulen sowie den Kindertagesstätten mit sofortiger Wirkung zu beenden.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge von anderen Autoren geben immer deren Meinung wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de.
Bild: ShutterstockText: eq