Warum „Freiheit“ für Merkel etwas ist, was sie „gibt“ "Vielleicht habe ich da ein autoritäres Verhalten in mir“ 

Drei Dinge haben mich in den vergangenen Tagen erschüttert. Das eine war die Aussage eines Bundestagsabgeordneten aus einer Regierungspartei bei einem vertraulichen Treffen. Er meinte, in der aktuellen Situation schlage die Lebensgeschichte und die Mentalität der Kanzlerin durch, die er natürlich auch persönlich kennt: Weil sie in der DDR sozialisiert worden sei, und zwar nicht als Kritikerin, sondern als Teil des Systems, seien Grundrechte und Freiheit für sie etwas Technisches, was sie nie verinnerlicht habe. Was man eben auch einmal abschalten könne. Und was ja auch mit der DDR-Verfassung so vorgelebt wurde: Die klang ja wie aus dem demokratischen Bilderbuch und garantierte formell alle Grundrechte. Nur eben nicht in der Realität.

Der zweite Moment, der mich etwas ins Gruseln brachte: Ich sah mir Dokumentationen über die DDR an. Und da war regelmäßig von „Lockerungen“ die Rede, wenn es um ein sanftes Zurückfahren von diktatorischen Einschnitten und Freiheitsbegrenzungen ging. Mir blieb das Wort „Lockerungen“ fast im Halse stecken.

Der dritte Grusel-Moment: Ein Tweet von ArgoNerd auf Twitter, dem in meinen Augen genialen Blogger mit dem Computer-Gedächtnis, dem kaum etwas entgeht. Sehen Sie sich seinen Tweet am besten im Original an:

Kohl wollte 1989 „den Menschen neue Freiheiten“ bringen. 31 Jahre später erklärt die frühere FDJ-Funktionärin Merkel: „Es wird keine neuen Freiheiten geben“. Eine Regierungschefin, die stramm kommunistisch sozialisiert wurde (in einem Pfarrers-Haushalt zwar, aber in einem sozialistischen, in dem Gysi, Schnur und Lothar de Maizière ein- und ausgingen, allesamt Leute, die mehr oder weniger mit der Stasi in Zusammenhang gebracht werden). Merkel hatte schon in jungen Jahren, 1991, in einem Gespräch mit Günter Gaus erklärt, dass sie mit Basis-Demokratie nichts anfangen könne: „Vielleicht habe ich da ein autoritäres Verhalten in mir.“ Laut Oskar Lafontaine war Merkel „glühende Jungkommunistin“: „Frau Merkel war FDJ-Funktionärin für Agitation und Propaganda, das konnte nur eine überzeugte Jungkommunistin, und sie durfte in Moskau studieren, das durften nur Linientreue.“ (siehe hier).

In der Tat.

So sehr ich mich gegen jede Gleichsetzung mit der DDR wehre, weil sie absurd wäre: So sehr sind doch Wurzeln von dem, was wir gerade erleben, auch in der DDR zu finden. So erschreckend, so verstörend, so beängstigend das ist.

Das muss vorhergeschickt werden, um zu erfassen, wie ungeheuerlich es war, was sich die Kanzlerin gestern erlaubte. Sie sagte einer der Journalistinnen, die bei jeder ihrer Pressekonferenzen zu Wort kommen und als brave Stichwort-Geber agieren: „Solange wir so ’ne Situation haben wie die jetzt, dass eine ganz kleine Minderheit geimpft ist und eine große Mehrheit nicht, wird es keine neuen Freiheiten geben…“ (anzusehen hier).

Wie bitte?

Ist Freiheit etwas, was die Kanzlerin „gibt“? Bzw. ihre Runde mit den Ministerpräsidenten, die im Grundgesetzt gar nicht vorgesehen ist? Und zwar aus gutem Grund: Weil die Trennung von Bund und Ländern genau das verhindern sollte, was wir aktuell erleben: Ein Durchregieren und Gleichtakten von oben herab.

„Keine neuen Freiheiten geben“ – was ist das für eine Verachtung der Grundprinzipien von Demokratie und Menschenrechten. Allein schon die Mehrzahl, also „Freiheiten“ statt dem Begriff „Freiheit“, spricht Bände.

Auch inhaltlich ist die Aussage unfassbar: Merkel sagt selbst, es gebe keine Erkenntnisse, dass die Impfung vor Übertragung des Virus schützt. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen: Wie kommt sie dazu, jetzt den Menschen unter Hinweis auf fehlende Impfungen weiter die Freiheit zu rauben? Die einzige logische Konsequenz ihrer eigenen Aussage zur Impfung könnte es sein, die Risikogruppen zu impfen und zu schützen und allen anderen ein normales Leben zu ermöglichen. Wie es die Menschen in Schweden, Russland, der Ukraine und anderen Staaten haben.

Auf meine Frage in der Bundespressekonferenz am 21. Januar, warum sie sich so einseitig beraten lasse, antwortete Merkel: „Aber es gibt in dem ganzen auch politische Grundentscheidungen, die haben mit Wissenschaft nichts zu tun.“ In einer funktionierenden Medienlandschaft hätte das ein riesiges Echo ausgelöst. In Deutschland 2021 wurde es in den meisten Medien totgeschwiegen.

Wie lange lassen sich die Menschen in Deutschland all das noch gefallen? Eine neue repräsentative Umfrage von INSA, die ich in Auftrag gegeben habe, kam zu dem Schluss, dass die Stimmung gekippt ist. Erstmals seit März sind mehr Menschen unzufrieden als zufrieden (siehe hier).

Je größer die Unzufriedenheit wird, umso heftiger wird in der Politik und in den Medien Angst geschürt werden. Die Spirale, die da bereits im Gange ist, lässt Böses ahnen.

PS: Hinweise auf Beschränkungen in anderen Ländern sind irreführend. Zum einen sind bei weitem nicht alle Regierungen so streng wie in Deutschland – vor allem, wenn man berücksichtigt, dass in vielen Ländern die bekannte Laxheit beim Durchsetzen von Regeln mit größerer Strenge bei deren Aufstellung kompensiert wird. Zum anderen ist die „Freiheitsbegrenzungs-Euphorie“, die große Teile der Medien und Politik hierzulande an den Tag legen, alles andere als die internationale Regel.

PS: Rene Zaugg schrieb in den Kommentaren: „Es ist ein bisschen simpel, für alles, was im heutigen Deutschland nicht läuft, die DDR verantwortlich machen zu wollen.“ Meine Antwort: „Ich mache überhaupt nicht für alles, was schief läuft, die DDR verantwortlich. Ich frage nach gewissen Faktoren in Merkels Sozialisierung. Und auch die haben weniger mit der DDR per se zu tun, als damit, dass sie im System war. Viele, die nicht im System waren, sind im Gegenteil viel immuner gegen Beschränkungen von Freiheit als viele im Westen! So viel Differenzierung muss schon sein!“

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Bild: 360b/Shutterstock
Text: br


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