Lockdown: Verbale Nebelkerzen aus dem Kanzleramt Seibert will keine Diskussion

Nachspiel in der Bundespressekonferenz: Am Mittwoch konnte Merkels stellvertretende Sprecherin Ulrike Demmer auf meine Frage hin keine konkreten wissenschaftlichen Studien nennen, mit denen die Bundesregierung den Lockdown und damit die massiven Freiheitsbeschränkungen für 83 Millionen Deutsche sowie ein Herunterfahren von großen Teilen der Wirtschaft begründet (siehe hier im Video). Sie erklärte auch nicht, wie die Regierung zu einer Studie von Stanford-Forschern steht und wie sie auf diese reagieren will, die den Lockdown für nutzlos bis schädlich erklärten.

Offenbar saß der Stachel der fehlenden handfesten wissenschaftlichen Grundlage so tief, dass heute Demmers Chef nachfasste: Steffen Seibert kam von sich aus noch einmal auf meine Frage vom Mittwoch zu sprechen. Und war dabei nicht nur kein bisschen konkreter als seine Stellvertreterin. Faktisch sagte er, dass er keine Nachfragen mehr wünsche zu dem Thema. Von den anwesenden Journalisten deutscher Medien wurde auch nicht nachgefragt. Manche schien eher zu beunruhigen, dass die Maßnahmen nicht weit genug gehen, oder nicht streng genug sind. Diese Rolle des kritischen Nachbohrens in Sachen wissenschaftlicher Grundlagen übernahm der russische Staatssender RT. Ich selbst war heute aus zeitlichen Gründen nicht in der Bundespressekonferenz.

Seibert sagte: „Hier gab es neulich… leider ist der Fragesteller heute nicht da…“ (er blickte demonstrativ von rechts nach links in den Saal und meinte mich, ohne mich zu nennen), „die grundsätzliche Frage nach der Haltung der Wissenschaft zu Lockdown-Maßnahmen. Irgendwie stand, meine ich, die absurde Behauptung im Raum, es gebe keine wissenschaftliche Grundlage für politische Beschlüsse. Ich kann bei der Gelegenheit vielleicht noch einmal ein paar Worte sagen; dann müssen wir das nicht jedes Mal tun. Die Regierungs-PK ist natürlich nicht der Ort, um wissenschaftliche Studien zu diskutieren. Das tun Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen täglich.“ (Anzusehen hier).

Mich erinnerte diese Aussage spontan an das legendäre Zitat des früheren russischen Parlamentspräsidenten Boris Gryslow, der einmal sagte, das Parlament sei nicht der Ort für politische Diskussionen. Und so Debatten und kritische Nachfragen verhindern wollte. Wenn 83 Millionen Menschen ihre Grundrechte entzogen werden, soll die Bundespressekonferenz nicht der Ort sein, um nachzufragen, ob es wissenschaftliche fundierte Studien gibt, die dafür eine Grundlage geben? Eine bemerkenswerte Position des Merkel-Sprechers. Er scheint die „Alternativlosigkeit“ von seiner Chefin übernommen zu haben. Und ebenso eine erstaunliche Auffassung von Journalismus.

Weiter sagte Seibert: „Gott sei Dank, wenden sie“ (die Wissenschaftler) „sich auch immer wieder mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit. Da gibt es ganz klare Aussagen über die Notwendigkeit und den Nutzen von deutlichen Kontaktreduzierungen, Aussagen von führenden Virologen, von Epidemiologen, von Experten, die rechnergestützte Modelle zur Entwicklung von Pandemien erstellen.“ Ja, die gibt es. Aber eben auch viele Aussagen dagegen. Und das alles ist keine Auskunft auf die Frage, auf welche fundierten Studien die Bundesregierung ihre Lockdown-Politik stützt.

Weiter führte Merkels Sprecher aus: „Ein guter Weg, um sich über den Studienstand, das sage ich auch für das Protokoll, weil das hier, wie gesagt, mehrfach hinterfragt wurde, auf dem Laufenden zu halten, ist die Webseite des Robert-Koch-Instituts. Dort kann man viel zum Stand der Forschung erfahren.“

Das scheint mir nicht so: Über Stimmen, die vom Kurs der Bundesregierung abweichen, erfährt man dort kaum etwas. Und Aufgabe von Journalisten ist es nicht, nur Informationen von staatlichen Behörden wie dem RKI zu verwerten. Sondern eben nachzubohren. Aber darum ging es ja auch gar nicht. Es ging darum, auf welche konkreten Studien sich die Bundesregierung stützt. Und darum, warum sie nicht auf die Stanford-Studie reagiert, der zufolge Lockdowns nutzlos bis schädlich sind. Und warum sie auch die Position der WHO ignoriert, die ebenfalls von Lockdowns abrät.

„Seibert zitiert einen Aufruf von über 1000 Wissenschaftlern. Die Great Barrington Declaration haben über 13.000 Wissenschaftler und über 40.000 Ärzte unterzeichnet“, kritisiert der Arzt Zacharias Fögen.

Unten können Sie auch noch den Wortwechsel zum gleichen Thema zwischen Florian Warweg von RT und Seibert heute nachlesen (und hier ansehen). Unter anderem verweist er auf eine vier Seiten (kein Tippfehler: vier Seiten) umfassende Stellungnahme der Leopoldina, die andere Wissenschaftler heftig kritisierten und als unwissenschaftlich beurteilten (siehe hier und hier). Die Bundesregierung muss sehr schwach aufgestellt sein, wenn sie diese vier Seiten als Verteidigungslinie nutzt. Seibert konnte nicht einmal auf die Frage antworten, ob eine eigene Studie in Auftrag gegeben wurde oder dies geplant sei.

Seibert sagte noch einmal: „Dies ist nicht der Ort, um einander mit wissenschaftlichen Studien zu überzeugen.“ Was für eine verbale Nebelkerze!  Es geht nicht ums „Überzeugen“. Es geht darum, dass die Bundesregierung Rechenschaft ablegen muss, auf welchen konkreten, wissenschaftlich geprüften Studien sie ihre Politik begründet.

Ich bin gespannt auf Ihr Urteil – ob Sie es genauso sehen, dass Seibert eine konkrete Auskunft zum Thema Studien tunlichst verweigert und faktisch eine verbale Pirouette zur Vermeidung einer Antwort abliefert. Interessant ist auch, dass Seibert mit keinem Wort auf die folgende Aussage seiner Stellvertreterin einging: „Wissenschaftliche Erkenntnisse können und sollten also politische Entscheidungen grundieren, aber ersetzen können wissenschaftliche Erkenntnisse politische Entscheidungen selbstverständlich nicht.“ Diese Aussage liefert Nahrung für die Behauptung von Kritikern, nicht die Erkenntnisse der Wissenschaft seien entscheidend für die Entscheidungen der Politik, sondern umgekehrt.

Würde unsere Medienlandschaft noch funktionieren, würde heute ganz Deutschland darüber reden, dass die Bundesregierung wissenschaftlich recht nackt dasteht. Und gleichzeitig den Lockdown verschärfen will. Solange sich aber die meisten Medien wie in Kriegszeiten als Verlautbaren des Regierungskurses sehen, kann diese machen, was sie will. Die Geschichte zeigt aber, dass so etwas fast nie lange gutgeht.


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Florian Warweg (RT): Ich habe eine Nachfrage zu den Ausführungen von Herrn Seibert, was die Studienlage angeht. Ich hatte hier im November nach evidenzbasierten Daten gefragt, die der Bundesregierung über die Wirkung eines Lockdowns vorlägen. Darauf hat der Kollege vom Gesundheitsministerium eingeräumt, dass es solche Daten in der Form nicht gebe. Die Antwort von Frau Demmer auf die Frage des Kollegen am vergangenen Mittwoch war auch eher ausweichend.

Man muss ja nicht den Lockdown an sich hinterfragen, aber ich finde es schon eine legitime Frage, über welche konkreten Studien die Bundesregierung verfügt, die tatsächlich darauf hindeuten, dass ein Lockdown die Wirkung hat, die ihm zugeschrieben wird.

Damals im November haben Sie, Herr Seibert, eher mit Ihrem Bauchgefühl argumentiert. Aber das kann ja eigentlich nicht die Grundlage sein.

Seibert: Entschuldigung! Mit meinem Bauchgefühl habe ich hier in zehn Jahren nicht argumentiert, und damit werde ich auch nicht anfangen.

Zusatzfrage Florian Warweg (RT): Den Clip gibt es ja noch.

Seibert: Mein Bauchgefühl. Wenn Sie mir das nachweisen können, dann gibt es einen Kaffee.

Florian Warweg (RT): Schwarz, bitte. Aber die Frage bleibt ja bestehen. Über welche konkreten empirischen Befunde und Studien verfügt die Bundesregierung, die besagen: „Jawohl, dieser Fokus auf den Lockdown ist die beste Option, über die wir derzeit verfügen?“

Seibert: Ich gehe gern noch einmal darauf ein.

Florian Warweg (RT): Aber die Frage bleibt ja: Über welche konkreten empirischen Befunde und Studien verfügt die Bundesregierung, die sagen: Jawohl, dieser Fokus auf den Lockdown ist die beste Option, die wir derzeit verfügbar haben?

Seibert: Ich gehe gern noch einmal darauf ein, weil ich jede Frage in dieser Richtung für legitim halte ganz klar. Ich bin nur nicht mit allen Schlüssen, die dann aus den Antworten gezogen werden, einverstanden. Aber das ist ja in Ordnung.

Die Regierungspressekonferenz ist nicht der Ort, um virologische epidemiologische Studien miteinander zu diskutieren. Ich glaube, dafür fehlen mir, aber wahrscheinlich auch Ihnen bei allem Respekt die wissenschaftlichen Grundlagen. Das tut die Wissenschaft. Trotzdem gibt es ganz klare Aussagen in der Wissenschaft.

Das Gute, wenn es überhaupt etwas Gutes an dieser Pandemie gibt, ist ja, dass wir uns vielmehr mit Wissenschaft beschäftigen und dass Wissenschaftler auch den direkten Weg zu den Bürgern finden. Gestern konnten Sie zwei Wissenschaftler in Hauptnachrichtensendungen des deutschen Fernsehens mit aufschlussreichen Interviews sehen.

Ich habe auf die Seite des Robert-Koch-Instituts, die wirklich einen guten Einstieg in den Studienstand gibt und von der aus man sehr viel zum Stand der Forschung erfahren kann, hingewiesen. Viel wurde berichtet, zum Beispiel im Dezember über den Aufruf von mehr als 1000 internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu einem europaweiten Lockdown, um zu niedrigeren Fallzahlen und zu einer besseren Kontrollierbarkeit des Virus zu kommen. Er ist am 18.12. veröffentlicht worden.

Ihnen ist sicherlich auch bekannt, dass die Leopoldina, unsere nationale Akademie der Wissenschaften, Anfang Dezember eine Stellungnahme abgegeben hat. Die Überschrift damals hieß: Feiertage und Jahreswechsel für harten Lockdown nutzen.

Das sind Wortmeldungen aus der Wissenschaft. Man könnte viele, viele mehr nennen, hinter denen natürlich wissenschaftliche Arbeit, Forschung und Studien stehen und die eine klare Sprache sprechen. Tagtäglich gibt es weitere Beispiele. Die Wissenschaft trägt Enormes dazu bei, dass wir am Ende stärker als dieses Virus sein werden. Die Arbeit der Wissenschaftler ist fundamental wichtig, auch für die Entscheidungen, die dann am Ende doch wieder politisch verantwortet werden müssen, und zwar von Wissenschaftlern aus allen Fachrichtungen.

Florian Warweg (RT): Nur ganz kurz: Herr Seibert, Sie haben jetzt wieder auf Stellungnahmen und Aufrufe verwiesen, die alle um die zwei bis vier Seiten stark sind. Aber der Kollege am Mittwoch hat ja tatsächlich einen Punkt, dass wirklich „peer-reviewte“ wissenschaftliche Studien, die auch den entsprechenden Standards standhalten, bisher das Gegenteil implizieren. Da wäre es doch an der Bundesregierung, Studien in Auftrag zu geben. Es ist ja mittlerweile seit Beginn dieser Pandemie schon fast ein Jahr vergangen, die diese Lockdown-Maßnahmen belegen. Bisher gibt es, soweit ich das im Blick habe, tatsächlich weltweit keine Studien, die den Namen verdienen, die wirklich in der Lage sind, diese Wirkungen zu belegen. Um noch eine Frage daraus zu machen: Plant denn die Bundesregierung eine entsprechende Studie?

Seibert: Ich lasse Ihre Behauptungen jetzt einfach einmal im Raum stehen. Ich denke, ich habe auf einige Stellungnahmen von international anerkannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verwiesen, die für jedermann zugänglich sind. Wer noch sehr viel mehr wissen will, kann sich über die Webseite des Robert-Koch-Instituts informieren.

Ich wiederhole noch einmal: Dies ist nicht der Ort, um einander mit wissenschaftlichen Studien zu überzeugen. Denn ich glaube, wie gesagt, dafür fehlen uns Grundkenntnisse.

Die Politik muss aber die Grundlagenarbeit, die die Wissenschaft in all ihren Fachrichtungen macht, zur Kenntnis nehmen. Das ist für uns eine ganz wichtige Basis für Entscheidungen, die dann natürlich politisch zu verantwortende Entscheidungen sind.

Spahn-Sprecher Kautz: Darf ich vielleicht noch eine Sache ergänzen? Dass sich COVID-19 als Virus darstellt und sich Viren über Kontakte übertragen, das ist wissenschaftlich erwiesen. Dass ein Lockdown zu einer Kontaktbeschränkung führt, ist auch so.

Weiter würde ich jetzt gar nicht mit der wissenschaftlichen Auswertung gehen. Ich schließe mich da Herrn Seibert an. Insofern erübrigt sich auch irgendwie die Frage.

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Bild: Boris Reitschuster
Text: br


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