Endlich konnte ich heute die Bundesregierung zu den Widersprüchen ihrer Corona-Politik befragen, die sich am Freitag bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Gesundheitsminister Jens Spahn und dem Chef der obersten Gesundheitsbehörde, des Robert-Koch-Institutes, aufgetan haben. Die Antworten finde ich persönlich wenig überzeugend, und sie verhärten in meinen Augen den Verdacht, dass die Regierung den Durchblick verloren hat (so sie ihn je hatte) und in der Kommunikation versagt – und zwar sowohl mit den Bürgern, weil sie Antworten schuldig bleibt, zum Teil demonstrativ. Aber auch in der internen Kommunikation, wie etwa mit dem RKI. Dabei wäre gerade diese in der Krise ganz entscheidend.
Den Aussagen von RKI-Chef Lothar Wieler am Freitag und denen von Regierungssprecher Seibert und Spahn-Sprecher Hanno Kautz heute nach zu urteilen, gibt es ganz offensichtlich massive Kommunikationsprobleme zwischen Robert-Koch-Institut und der Regierung. Für die Diskrepanzen in ihren Aussagen konnte und/oder wollte die Regierung keine überzeugenden Antworten liefern. Aber lesen Sie die Dialoge im Original, oder sehen Sie mein Video von der BPK heute und machen Sie sich selbst ein Bild.
Dauer-Lockdown zur Grippe-Vermeidung?
FRAGE REITSCHUSTER: Eine Frage in Sachen Corona an Herrn Seibert und an Herrn Kautz. Herr Wieler war am Freitag hier und hat erzählt, dass die Grippeerkrankungen weltweit ganz dramatisch zurückgegangen sind. Wie kann das weltweit der Fall sein, wenn es doch in vielen Ländern keinen Lockdown gibt?
In Deutschland gab es 2017/18 eine Grippewelle mit ungefähr 25.000 Toten, wie das Ärzteblatt schätzt. Hätte die Politik damals schon diese Menschen mit einem Lockdown retten können? Wie wird man das in Zukunft handhaben, weil ja wieder Grippewellen kommen werden? Dann müsste man ja eigentlich immer Hygienemaßnahmen einsetzen, um auch bei künftigen Grippewellen solche hohen Todesraten wie 2017 zu vermeiden. Vielen Dank.
SEIBERT: Zunächst einmal, Herr Kautz wird die Antwort sicher gleich übernehmen, klingt das für mich, als hätten Sie diese Frage, die ja eine Frage für Epidemiologen ist – warum gab es keine Grippewelle oder warum war sie nicht so ausgeprägt, dann hätten Sie die Herrn Wieler, einem ausgewiesenen Experten, stellen sollen. (…) Außer, dass wir uns darüber freuen, und dass es wahrscheinlich den oft erwähnten Zusammenhang mit den strengen Hygiene- und Abstandsmaßnahmen und den Kontaktbeschränkungen gibt, ist das darüber hinaus keine Sache der Politik der Bundesregierung, warum es in verschiedenen Ländern der Welt und auch bei uns eine schwächere oder kaum eine Grippewelle gegeben hat. Das heißt, das ist eine Frage, die wirklich dann an den Fachmann zu richten ist.
Aber vielleicht hat Herr Kautz dazu noch etwas beizutragen.
KAUTZ: Ich kann gerne übernehmen. Es ist ja nicht so, wie Sie gesagt haben, dass in anderen Ländern nichts gegen die Coronapandemie unternommen wurde. Auch eine Maskenpflicht hilft, diese Epidemie einzugrenzen. Und auch eine Maske hilft natürlich auch, die Verbreitung von Grippeviren zu verhindern.
Zu der Frage, wie man das künftig handhaben will und ob man dauernd in Lockdowns geht, um Grippewellen zu verhindern: Was wir machen und was wir auch für diese Grippesaison gemacht haben ist, einen Ausnahmetatbestand zu schaffen, damit Ärzte mehr Grippeimpfstoff bestellen können. Außerdem haben wir als Bundesregierung zusätzlichen Impfstoff bestellt. Das werden wir auch, das haben wir angekündigt, in der nächsten Grippesaison machen. Auch Impfung hilft, eine Grippewelle zu vermeiden. Es ist also nicht nur monokausal zu sehen, warum die Grippewelle ausgeblieben ist, sondern es gibt mehrere Gründe dafür.
ZUSATZFRAGE REITSCHUSTER: Haben Sie Pläne, die Lockdown-Maßnahmen wegen dieser Wirkung auf die Grippe weiter zu verlängern? Und wie erklären Sie sich, dass die Maßnahmen gegen das Grippevirus, aber nicht gegen das COVID-19-Virus helfen?
KAUTZ: Herr Reitschuster, ich kann nicht ganz folgen. Die Maßnahmen, die wir getroffen haben, helfen sehr wohl gegen das COVID-19-Virus. Sie helfen auch gegen das Grippevirus. Das ist genau das, was Herr Wieler von diesem Platz am letzten Freitag gesagt hat.
Wirrwarr bei der Inzidenz
FRAGE REITSCHUSTER: Herr Seibert, Herr Kautz, ich habe eine Frage zur Inzidenz. Ich bin etwas verwirrt. Vielleicht können Sie mich aufklären. Herr Wieler hat am Freitag hier im Saal gesagt, ich zitiere wörtlich: Eine Inzidenz von 10 wäre cool. Da könnten wir wirklich gut regulieren und könnten das Geschehen kontrollieren. Das ist eine Zahl, mit der könnten wir super kontrollieren, und das ist jetzt wirklich wichtig. – Herr Wieler sagt also, bei einem Wert von 10 könnte man gut kontrollieren. Er sagt, die Gesundheitsämter könnten vielleicht mit einem etwas höheren Wert als 10 umgehen, aber nur mit einem etwas höheren. Nun redet die Bundesregierung im Gesetz aber von den Werten 50 und 35. Vielleicht können Sie diese Diskrepanz erklären. Der oberste Gesundheitsbeamte sagt also, ein Wert von 10 oder etwas mehr wäre notwendig, aber Sie reden von 35 und 50. Ich verstehe die Diskrepanz nicht.
KAUTZ: Ich kann mich gerne dazu äußern, Herr Reitschuster. Der Minister hat auch am Freitag noch einmal wiederholt, dass der Rat der Wissenschaftler das eine ist und das andere die politische Entscheidung ist, zu sagen, was wir am Ende machen. Ich will mich jetzt nicht in diese Zahlenklauberei einmischen. Hinsichtlich der Werte 35 und 50 hat ja auch Herr Seibert gerade schon klar die Haltung der Bundesregierung erläutert.
Herr Wieler hat, ich kenne den genauen Kontext jetzt nicht mehr, auf die Frage nach „No-Covid“ gesagt, glaube ich, es wäre natürlich wünschenswert, wenn der Wert noch weiter heruntergehen würde, wenn er noch unter 10 gehen würde. Das hat nichts mit der Diskussion über Öffnungen zu tun.
SEIBERT: Auch ich sehe darin gar keinen Widerspruch. Es gab im vergangenen Sommer über lange Wochen hinweg Inzidenzwerte von 3, 4 oder 5 in deutschen Städten und Landkreisen. Das war natürlich ein aus heutiger Sicht traumhafter Zustand, der uns tatsächlich auch ermöglicht hat, sehr viele Freiheiten zu leben, jedenfalls sehr viele mehr als jetzt im Herbst und Winter, in denen wir es im nationalen Durchschnitt in der Spitze mit einem Inzidenzwert von, glaube ich, 140 zu tun hatten. Nun sind wir glücklicherweise innerhalb weniger Wochen durch die Beharrlichkeit und die Disziplin von Abermillionen von Menschen und durch die auch politisch in Bund und Ländern beschlossenen Maßnahmen von diesem Wert von 140 auf einen Wert heruntergekommen, der irgendwo in den hohen Fünfzigern liegt. Das heißt, wir konzentrieren uns jetzt auf die nächsten Schritte. Dabei ist der Wert 50 eine Stufe und der Wert 35 ein ganz wichtiger Vorsichtswert, ab dem dann weitere Maßnahmen möglich sein werden. Aber natürlich wäre es gut, noch weiter herunterzukommen. Aber jetzt haben wir einen Plan, der sich auf die Werte 50 und 35 stützt.
ZUSATZFRAGE REITSCHUSTER: Sie sagen, Sie sähen keinen Widerspruch. Aber die Bundeskanzlerin hat gesagt, ab einem Wert von 50 könne man kontrollieren. Herr Wieler sagt aber wörtlich: 10 wäre wichtig. Die Gesundheitsämter können nur etwas mehr. – Was stimmt da also, die Aussage von Herrn Wieler oder die der Bundeskanzlerin?
SEIBERT: Dazu würde ich gerne erst einmal das Protokoll dieser Pressekonferenz mit Herrn Prof. Wieler nachlesen.
Der Wert 50 ist ein Erfahrungswert, der Auskunft über die Möglichkeit der Gesundheitsämter gibt, Kontakte nachzuverfolgen und Infektionsketten zu durchbrechen. Den hat sich nicht die Bundesregierung ausgedacht, sondern das ist ein Erfahrungswert, der natürlich auch im Rahmen des ganz intensiven Austausches mit vielen Leitern von Gesundheitsämtern zustande gekommen ist. Dabei gibt es dann sicherlich noch individuelle Unterschiede. Manche können vielleicht auch bei einem etwas höheren Inzidenzwert diese Nachverfolgung wirklich komplett leisten, und andere werden schon bei einem Wert von weniger als 50 sozusagen am Rande ihrer Möglichkeiten angelangt sein. Das ist ein Erfahrungswert.
Ganz klar ist aber: Je niedriger, desto besser. Das versteht jeder. Nur kommen wir erst einmal von deutlich höheren, dreistelligen Werten herunter, nähern uns jetzt diesem Erfahrungswert von 50 an und streben dann einen Sicherheitswert, einen Pufferwert von 35 an.
Links zu den Videos
PS: Sie können sich mein Video mit Kommentaren und Auszügen hier ansehen, oder die Bundespressekonferenz in ganzer Länge hier.
Bild: Boris Reitschuster
Text: br