In Systemen, in denen die Medien bei der Kontrolle der Regierung versagen und die Ja-Sager den Ton angeben, sind die Regierenden auf alternative Informationsquellen angewiesen. Schließlich müssen sie wissen, was schief läuft und wo den Menschen der Schuh drückt. Und was willfährige Hofberichterstatter und Beamte von ihnen fernhalten. So wundert es mich denn auch nicht, dass sich nun herausstellt, dass selbst Merkels Sprecher Steffen Seibert meine Seite liest. Wenn er das auch nur indirekt zugibt.
Aber auf jeden Fall ist es nun öffentlich und damit quasi amtlich. Und Seibert ist auch nicht der einzige in der Regierung, der sich hier informiert. Auch das Innen-, das Finanz- und Gesundheitsministerium lesen mit. Und andere vielleicht heimlich. Und es ist gut so, dass sie mitlesen. Jedes System braucht Kritik. Aber der Reihe nach:
„Im Nachgang zu der letzten Bundespressekonferenz-Sitzung hat das Bundespräsidialamt die Funktion und die Namen derjenigen Wissenschaftler bekannt gegeben, die die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten im Zuge der erweiterten Lockdown-Entscheidung beraten haben“, fragte Florian Warweg von RT heute in der BPK unter Berufung auf meine Berichterstattung vom Mittwoch (ich selbst war heute nicht anwesend). Nach ursprünglichem Mauern hatte die Bundesregierung mir nachts kurz vor 21 Uhr die Liste der Wissenschaftler geschickt. Warweg griff meine Kritik auf: „Darunter ist jetzt kein bekannter Kritiker des Lockdowns. Aber es gibt ja sehr wohl renommierte Ärzte und Wissenschaftler, die das Instrument des Lockdowns hinterfragen. Deswegen frage ich: Aus welchen Gründen hat sich die Kanzlerin dagegen entschieden, im Sinne eines dialektischen Beratungsansatzes auch Kritiker dieses Instruments für die Beratung heranzuziehen?
Seibert antwortete: „Vielleicht muss man einmal ein bisschen klarstellen, was der Charakter des Austausches zwischen Wissenschaft und Politik in dieser ganzen Pandemie ist. Ich habe irgendwo die vollkommen unsinnige Überschrift gelesen ‘Nur sechs Wissenschaftler berieten Regierung zum Lockdown`.“
„Irgendwo“ ist auf reitschuster.de. Da hätte Seibert durchaus präziser sein können in der Quellenangabe:
Weiter führte Seibert aus: „Was am Tag vor dem Treffen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten stattfand, war eine Expertenanhörung mit den genannten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Die Bundesregierung steht insgesamt mit einer Vielzahl anderer Wissenschaftler unterschiedlichster Fachgebiete im Austausch. Die Landesministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen, darüber könnten die Ihnen auch Auskunft geben, haben ebenfalls Wissenschaftler, vermutlich aus ihrer Region, mit denen sie im Austausch stehen. Die Minister und Ministerinnen der Bundesregierung haben mit Wissenschaftlern aus ihren Fachgebieten zu tun. Grundsätzlich ist es so: Die Wissenschaft präsentiert Erkenntnisse, Ergebnisse von Studien und wissenschaftliche Überzeugungen, die sie hat, und die Politik nimmt das zur Kenntnis und muss politische Entscheidungen fällen. Diesem Gedanken, dieses Sechsergremium sei nun irgendwie exklusiv gewesen, würde ich also sehr gerne widersprechen.“
Der Gedanke stand aber so gar nicht in meinem Beitrag. Unter der Überschrift, die zugespitzt ist, wie es sich für eine anständige Schlagzeile gehört, ist im Text die Rede von der Runde von „Wissenschaftlern, deren Expertise für die Verlängerung des Lockdowns entscheidend war“ und von „entscheidenden Beratungen“. Und dazu stehe ich. Alles andere widerspricht der Lebenswirklichkeit. Wenn die Regierung kurz vor der Entscheidung sechs Wissenschafter zur Beratung zusammenschaltet, dann spricht alles dafür, dass dies die entscheidende Beratung ist.
Zudem war meine Frage am Mittwoch konkret, welche schriftlichen Unterlagen und Evidenz es gibt für die Beratung und die Notwendigkeit des Lockdowns. Mir wurden keine genannt (siehe hier). Nun spricht Seibert von „Ergebnissen von Studien“. Warum wurden die dann aber nicht genau benannt?
Weiter sagte Merkels Sprecher: „Die Wissenschaftler, die am Montag dieser Woche den Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin ihre Erkenntnisse vorgetragen haben, sind in ihren Fachgebieten hoch renommierte Wissenschaftler.“ Auch das mag sein. Aber dass mit einem Physiker und einer Physikerin ein Drittel der Runde aus diesem Fachgebiet sind (dem gleichen wie Merkel), wirkt erst mal merkwürdig. Seibert führte sodann aus: „Aber, wie gesagt, die Aufnahme von wissenschaftlicher Meinung innerhalb der Bundesregierung und auch der Landesregierungen ist noch sehr viel breiter.“
Warweg fragte nach: „Aber meine Frage war ja, inwieweit kritische Stimmen bezüglich Lockdown-Maßnahmen im Sinne eines dialektischen Beratungsansatzes von der Kanzlerin angefragt werden. Diese Frage haben Sie noch nicht beantwortet. Zweitens war ja zumindest in diesem konkreten Fall des Beschlusses der Ministerpräsidenten und der Kanzlerin auch kein einziger Wissenschaftler aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich oder einer Wissenschaft, die sich sozusagen um die gesellschaftlichen Auswirkungen des Lockdown kümmert, präsent. Können Sie noch einmal darlegen, wieso man auf diesen Teil der Wissenschaft nicht zurückgreift und in dem konkreten Fall nicht zurückgegriffen hat?“
Darauf Seibert: „Ich werde meine erste Antwort, die darauf auch eine Antwort gegeben hat, hier nicht wiederholen, und deswegen kommen wir an dieser Stelle nicht weiter. Es gibt natürlich ganz umfassende Kontakte mit Wissenschaftlern aller Fachrichtungen auch innerhalb der Ministerien, auch innerhalb der Landesregierungen und auch innerhalb der Bundesregierung über den Kreis dieser sechs Personen hinaus.“
Das mag so sein. Aber mit expliziten Kritikern wie Prof. Bhakdi, Dr. Wodarg, Prof. Homburg oder Prof. Hockertz spricht die Bundesregierung nicht und hat es auch nicht vor. Jedenfalls habe ich schon mehrfach nachgehakt. Ohne Erfolg.
Dass reitschuster.de auch im Kanzleramt gelesen wird und Merkels Chef-Sprecher sogar einzelne Überschriften meiner Seite kommentiert, zeigt, wie wichtig sie inzwischen als Korrektiv geworden ist. Ich sehe es als Ritterschlag. Und der Kommentar „vollkommen unsinnige Überschrift“ belegt nach der alten Weisheit von Karl Kraus „Was trifft, trifft zu“, dass ich einen wunden Punkt erwischt habe. Besonders pikant: Es war das Bundeskanzleramt, das mir eine Liste mit sechs Wissenschaftlern schickte, die Kanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten vor ihrer Beschlussfassung beraten haben. Insofern könnte man hier spitz anmerken, dass das „vollkommen unsinnig“ nicht auf mich zurückfällt.
So wenig ich einen Anspruch auf „Wahrheit“ erhebe (nur darauf, ehrlich nach ihr zu suchen), und so wenig ich vor Fehlern und Fehleinschätzungen gefeit bin: Die Grundaufgabe von Journalisten ist es, die Regierenden ins Schwitzen zu bringen. Sie zu Transparenz und zur Rechtfertigung ihres Handelns zu zwingen. Durchaus auch durch Zuspitzungen. Dass es dazu in einer riesigen, milliardenschweren Medienlandschaft einer privaten Seite wie meiner bedarf, ist eigentlich traurig. Früher hatten Regierungssprecher täglich Gelegenheit, sich über diverse Artikel in diversen Zeitungen aufzuregen. Erfreulich ist indes, dass man auch als Einzelner so viel bewirken kann. Und in dem Fall sogar erreichen, dass die Liste der Beratungs-Teilnehmer öffentlich gemacht wird. Denn die Auswahl und Anzahl der Experten sind wichtige Fakten der Zeitgeschichte.
PS: Pikant ist auch, dass nur einen Tag nach der Experten-Geschichte die mit staatlichen Mitteln geförderte Journalisten-Plattform „Steady“ mir die Zusammenarbeit aufkündigte (siehe hier).
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Text: br