Chronische Verstopfung Geschichten zum Schmunzeln – Mein Krisen-Alternativ-Programm

Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Ich möchte Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà:

Meine Geschwindigkeit ist Guiness-Buch-verdächtig: Maximal 50 Meter sind es, die ich in der vergangenen Stunde vorangekrochen bin. Genauer gesagt: die der Fahrer meines Taxis vorangekommen ist. Seelenruhig sitzt er am Steuer wie ein Fakir. Donnerstag Abend, gegen 20 Uhr. Moskau steht.

„Erreichen wir den Flieger noch?“ Meine aufgeregte Frage lässt den Mann am Steuer kalt: „Ich weiß nicht“, sagt er und zuckt gleichgültig mit den Achseln. Zweieinhalb Stunden sind es noch, bevor mein Aeroflot-Jet Richtung Sibirien abhebt. Im Gegensatz zu mir, dem Ausländer mit der fehlenden Demut, weiß der Fahrer, dass am alltäglichen Stau-Schicksal auch die heftigsten Emotionen nichts ändern – und deshalb spart er sie sich. Ein einzelner Fahrer hupt verzweifelt gegen den Gleichmut an – doch keiner greift seinen Protest auf. Und das, obwohl der Stau mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Kreml-Gedächtnis-Stunde ist: Der Verkehr in der Innenstadt kommt alltäglich zum Erliegen, weil ganze Straßenzüge gesperrt werden, wenn hochrangige Politiker auf dem Weg zur Arbeit, zu Treffen oder in den Feierabend sind. Jede derartige VIP-Fahrt verursacht laut Experten Staus von 40 Minuten bis anderthalb Stunden.

'Wenn Sie heute nicht fliegen, dann eben morgen'

„Bei uns in Berlin würde eine Revolution ausbrechen, wenn die Menschen wegen Merkel oder Steinmeier jeden Tag stundenlang festsitzen müssten“, entfährt es mir. „Was, sperren die bei Ihnen nicht die Straßen? Das glaube ich nicht“, antwortet der Fahrer gleichmütig: „Das ist doch überall so.“

Es ist 20.15. Bis der Check-In-Schalter für meinen Flug schließt, sind es zwar noch anderthalb Stunden. Doch wenn ich die Geschwindigkeit der letzten Stunde hochrechne, würde es noch Wochen dauern, bis ich am Flughafen Scheremetjewo-1 im Moskauer Norden ankomme. „Abwarten und Tee trinken“, meint der Fahrer: „Wenn Sie heute nicht fliegen, dann eben morgen“. Aber meine unruhige ausländische Seele macht das nicht mit: Ich werde fahnenflüchtig, steige aus dem Wagen, Richtung Metro. Ein Ausdauerlauf, mit vollem Kampfgepäck. Und wenig Hoffnung.

Schwer beladen wie ein Lastesel mache ich mich unter staunenden Blicken auf den Weg in den Untergrund, zum Sawjolowskij-Bahnhof. Von dort gehen jede Stunde zwei S-Bahnen Richtung Flughafen. Ich muss sie nur erwischen. Und mich dann vom End-Bahnhof Scheremetjewo-2 oder Lobnja irgend wie bis Scheremetjewo-1 durchschlagen – und beten, dass es die Stau-Götter dort gnädig mit mir meinen.

Polizisten schielen auf Bakschisch

Autofahren in Moskau ist in den letzten Jahren endgültig zum Roulette-Spiel geworden. Regelmäßig geht nichts mehr in der Stadt. Hoffnungslos feststeckende Notarztwagen mit Blaulicht gehören ebenso zum Straßenbild wie die gewaltigen Luxusschlitten mit Sirenen, die dem Stau über die Gegenfahrbahn entkommen. Selbst die Spieler von Spartak Moskau konnten ein Champions-League-Heimspiel gegen Inter Mailand nur retten, weil sie sich aus dem feststeckenden Mannschaftsbus in die Metro flüchteten: Nach dem Stress verloren sie das Match prompt mit 0:1. Rund 3,5 Millionen Autos sind heute in Moskau registriert, zehn Prozent davon jeden Tag unterwegs. Damit fahren in Moskau zwar fast dreimal weniger Wagen pro 1000 Einwohner als in London oder New York. Aber mit 1310 Kilometern ist auch das Straßennetz nur halb so groß, wie es sein sollte.

Bei ihrer Verkehrsplanung gingen Moskaus Stadtväter einst von 10 Autos pro 1000 Bewohnern aus; schon in den 80er-Jahren stieg diese Zahl dann auf 80; heute kommen auf 1000 Moskauer 286 Autos. Zur chronischen Verstopfung tragen nach Ansicht von Fachleuten auch gerade jene bei, die sie eigentlich verhindern sollten: Die Verkehrspolizisten, die eher auf Bakschisch schielen, statt Verstöße zu ahnden, die wenig Bares bringen, aber der Verkehr behindern – wie das Einfahren in blockierte Kreuzungen oder Falschparken auf der Fahrbahn zu verhindern. Statt Computern steuern zudem Verkehrspolizisten viele Ampeln, eine grüne Welle halten die Moskauer für eine Ökologie-Bewegung aus dem Westen.

Kein Wunder, dass statt den berüchtigten Politik-Witzen vergangener Tage heute oft Verkehrs-Witze populär sind. Etwa: „Können Sie sich nicht schneller fortbewegen“, fragt der Fahrgast. Darauf der Taxifahrer: „Ich kann es, aber als Fahrer darf ich den Wagen nicht auf der Straße stehenlassen“. Zu den Stoßzeiten beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit in Moskau 8 bis 11 Kilometer pro Stunde. Im Zentrum stauen sich die Wagen zuweilen auch noch spät nach Mitternacht. Manche Fahrer nehmen die Staus als Videos mit ihren Handys auf – um beim Chef eine Ausrede für ihre Verspätung zu haben.

Der Schwur an der 'Elektritschka'-Station

„Der Dauer-Stau wird immer mehr zum Problem für die Firmen, die Leute kommen immer später und fahren immer früher los, viele stecken drei Stunden am Tag fest, wir denken inzwischen über Heimarbeitsplätze nach“, berichtet ein Moskauer Unternehmens-Chef. Immer öfter sieht man teuer gekleidete „Bisnis-Meny“ mitsamt Leibwächtern auf dem Weg in den Untergrund – die Metro. Doch selbst dort ist der Moskowiter vor Staus nicht gefeit: Zu den Stoßzeiten bilden sich gigantische Warteschlangen vor den Rolltreppen. Wer unter Berührungsangst oder gar Klaustrophobie leidet, sollte den Untergrund meiden. In den Waggons teilen sich bis zu fünf Menschen einen Quadratmeter, die „Höchstzuladung“ wird um 50 Prozent überschritten. Über der Erde ergeht es den „Passagieren“ kaum besser: Das öffentliche Nahverkehrs-Netz auf den Straßen ist in den letzten 17 Jahren um ein Drittel geschrumpft.

Moskaus Stadtväter wollen mit neuen Straßen, neuen Taxi-Projekten und Bus-Spuren dafür sorgen, dass Moskau entgegen kritischen Prognosen auch in drei Jahren nicht endgültig zu stehen kommt.

Ich will mich darauf nicht verlassen. Als ich schweißgebadet und mit schmerzenden Schultern mein ganzes Gepäck rechtzeitig in die „Elektritschka“, wie die S-Bahn in Moskau heißt, gehievt habe, schwöre ich mir, künftig wie bei allen anderen Fahrten auch für den Weg zum Flughafen nur auf Metro und Zug zu setzen – auch wenn ich dann wegen des Gepäcks zuweilen notgedrungen auf Gewichtheber umsatteln muss.

Doch ein Garantiemittel ist auch der Umstieg nicht. „Haben Sie es eilig“, fragt mich der Taxifahrer, der mich vom Bahnhof Dubnja die letzten paar Kilometer zum Flughafen bringt und meine nervösen Blicke auf die Uhr bemerkt hat. Als ich nicke, bremst er. Ganz gegen die Tradition hält er an jedem Zebrastreifen an und lässt sich selbst von den Schwerlastern überholen. Offenbar will er einen Eil-Aufschlag. „Wo kommen Sie denn her?“, fragt er mich. „Was? Aus Deutschland? Die deutschen haben so guten Fußball gespielt“, sagt er, und drückt plötzlich aufs Gas, als wolle er mit seinem alten Wolga Michael Schumacher Konkurrenz machen. Zehn Minuten, bevor der Check-In schließt, bin ich am Flughafen. Ich strecke ihm dankbar die Hand hin. Er schlägt ein – und antwortet auf Deutsch: „Auff Widersen!“

Nach dem wirklich unangenehmen „Job“ mit dem Lauterbach-Interview bin ich Ihnen für ein Schmerzensgeld besonders dankbar – und verspreche dafür, auch beim nächstem Mal wieder in den sauren Apfel zu beißen und wachsam an dem gefährlichen Minister dran zu bleiben! Aktuell ist (wieder) eine Unterstützung via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre: über diesen Link. Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71. Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.

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Bild: iPics/Shutterstock

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