Ein Gastbeitrag von Elino Ernst
Die Coronakrise beschleunigt das Ende altbekannter Gewissheiten. Exemplarisch werden in diesem Gastbeitrag folgende Fragenkomplexe behandelt:
Warum entwickelte eine Mehrheit der Bevölkerung – und vor allem politisch links stehende Bürger – eine regelrechte Staatshörigkeit, obwohl moderate Linke traditionell größtenteils staatskritisch eingestellt gewesen sind und radikale Linke ihre Staatsverachtung selten verhehlen? Warum werben viele Menschen heutzutage offen für gentherapeutische Impfstoffe, obwohl sie gentechnisch veränderte Lebensmittel nach wie vor als gesundheitliche Bedrohung betrachten? Warum sind sie überdies bereit, Diskriminierungen für Nichtgeimpfte zuzulassen? Warum sehen sie datenschutzrechtliche Probleme bei der Offenlegung intimer Gesundheitsdaten wie dem Impfstatus gegenüber der Privatwirtschaft nicht? Und wo liegen die Schnittmengen zur Klimadebatte und zu Cancel Culture?
Verkehrte Welt, denkt man in diesen Zeiten. Alte Gewissheiten erodieren noch schneller als früher. Scheinbar plötzlich haben eine Mehrheit und besonders zahlreiche Linke eine übersteigerte Staatsliebe entwickelt, die man besser als Staatsgläubigkeit oder -hörigkeit beschreiben kann, und rufen nach harten und konsequenten Corona-Maßnahmen durch den Staat. Wer sich diesen nicht unterwirft, soll die volle Härte der Staatsmacht spüren. Repression als Forderung der Eiferer von links widerspricht der sonst üblichen Nachsicht im Umgang mit Regelbrechern. Toleranz für Kritiker der Maßnahmen, die obendrein zu Demokratiefeinden erklärt und mit wenig schmeichelhaften Vokabeln wie Verschwörungstheoretiker oder Rechtsextreme etikettiert werden, sucht man vergeblich.
Die biedermeierliche Regelversessenheit, die in den Verordnungen und Allgemeinverfügungen zum Ausdruck gebracht wird, eröffnet ein Angebot an Orientierung in dieser Ära des Werteverfalls, das – gepaart mit einem zu Solidaritäts-Rhetorik stilisiertem Narzissmus – in der Maske sein Erkennungszeichen gefunden hat. Moralische Erhebung gegenüber Skeptikern wird zum Volkssport. Die für gewöhnlich zum Relativismus neigende Gesellschaft verfiel dem Götzen der Corona-Absolutheit.
Götzen der Corona-Absolutheit
Freilich haben viele Linke schon immer dem Etatismus nahegestanden, der Interventionen, Regulierungen sowie Verbote durch den Staat propagiert; aber gleichzeitig haben sie ihre Bedenken gegenüber staatlichem Handeln stets bekundet und darüber hinaus das Gewaltmonopol des Staates oftmals nicht anerkannt. Strukturelle Gewalt haben sie insbesondere beim Staat gesehen und nach wie vor legitimieren sie Gewalt von linksextremistischen Kräften, die sich gegen diese angebliche strukturelle Gewalt des Staates richtet. Ferner war darauf Verlass, dass Härte gegenüber Demonstranten ein Anlass für harsche Kritik am Staat war. Heute wird umgekehrt genau diese Unnachgiebigkeit gefordert, wenn Gruppen demonstrieren, die die freiheitseinschränkenden Corona-Maßnahmen für übertrieben halten.
Politisch links Eingestellte an zahlreichen Schalthebeln der Macht haben bewirkt, dass der herrschende Mainstream nach links verschoben wurde. Die Tatsache, dass Linken der Marsch durch die Institutionen gelungen ist, greift allerdings als Begründung für die heutige Staatshörigkeit – vor allem politisch Gleichgesinnter – zu kurz. Die Ursachen liegen tiefer. Lockdown bedeutet Verzicht. Verzicht erlöst von der Unübersichtlichkeit der Welt und entlastet von der als belastend empfundenen Freiheit. Der Lockdown garantiert eine Flucht aus der Komplexität und dem Überfluss. Der Stecker wird gezogen – und zwar für alle. Man muss ihn nicht selbst ziehen. Hätte man ihn allein gezogen, wäre man zum Versager abgestempelt worden, der den Zwängen der Beschleunigung und Optimierung im Privatleben und im Beruf nicht gewachsen ist. Lockdown bedeutet Entscheidungsarmut und holt den Zeitgenossen aus dem Hamsterrad des permanenten Aktionismus. Das vermeintliche Paradies, in das der Lockdown führt, ist eine Tristesse der Einsamkeit mit reduzierter CO2-Emission.
Insofern ist der Corona-Lockdown die Blaupause für den von vielen erhofften Klima-Lockdown. Für die Befürworter strengster Klimawandel-Abwehrmaßnahmen kann die Pandemie keine Folge eines Labor-Unfalls in Wuhan gewesen sein, sondern muss eine durch die Klimaerwärmung ausgelöste Entwicklung sein, die sich wiederholen kann und wird. Doch wer hat aus ihrer Sicht die Macht, den Klimaveränderungen zu begegnen und damit zukünftige Pandemien und weitere Erwärmung zu vermeiden? Einzig der Staat, der zudem zu einer Einheit mit ihm als Lieferanten tätigen Wissenschaftlern verschmilzt. An die Kraft des Marktes glaubt in der Klimabewegung niemand – zur Abwechslung also mal eine offenbar weiter hartnäckig unumstößliche Gewissheit. Wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel einzuleiten wird dementsprechend als drängende Aufgabe an den Staat adressiert. Lockdowns zu verhängen erscheint den Staatsgläubigen als eine sinnvolle Maßnahme gegen die Erwärmung und gegen die Pandemie.
Linker Aktivismus
Dieser linke Aktivismus hat Tradition. Klima-Notstände wurden schon vor der Corona-Pandemie propagiert. Die Demokratie solle bei der Bekämpfung des Klimawandels umgangen werden, da die Wesensmerkmale der Demokratie als einer bedachtsam agierenden, auf Mehrheiten angewiesenen und am Interessenausgleich sowie Kompromiss orientierten Staatsform der Dringlichkeit einer Problemlösung im Weg stünden. Den Apologeten des Klima-Notstands wird ihre Demokratiefeindlichkeit selten angekreidet. Ihre Einstellung belegt indes, warum die Beschränkung und Aussetzung der Grundrechte als Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen sie genauso wenig wie das Pandemie-Krisenmanagement jenseits des Grundgesetzes entrüsten.
Grundrechte sind Freiheitsrechte. Wem aber Freiheit eine Bürde ist, dem fehlt die verlorengegangene Freiheit nicht. Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat. Wer aber den Staat zum Erlöser aufwertet, dem ist nicht an Distanz und Interaktion auf Augenhöhe gelegen. Der Eindruck verfestigt sich, dass Freiheit von vielen auf gesellschaftspolitische Toleranz reduziert wurde; statt in Kategorien individueller Freiheit und universalistischer Grund- und Menschenrechte wird in Kategorien gruppenbezogener Privilegien für selbsternannte Fortschrittliche bzw. Vernünftige gedacht. Auf diese Weise werden die Skeptiker der Corona- und Klimamaßnahmen zu Gegnern erklärt; werden ihnen Grundrechte wie etwa das Versammlungsrecht verweigert, wird dies nicht als Problem erkannt.
Eine fast identische Entwicklung in Richtung Zwei-Klassen-Gesellschaft zeichnet sich bei der Impfung gegen das Sars-CoV-2-Virus ab. Und wieder kann man beobachten, dass Gewissheiten über Bord geworfen werden. Noch vor sechzehn Jahren drückte die Bezeichnung „Professor aus Heidelberg“ die Verachtung gegenüber Wissenschaftlern – konkret des Ex-Kanzlers Gerhard Schröder gegenüber dem honorigen Professor Paul Kirchhof – aus. Heute gelten Wissenschaftler als letzte Autoritäten und sogar Helden, die an der Spitze des Fortschritts stehen und z. B. Impfstoffe in Rekordgeschwindigkeit entwickelten.
Die Exekutive hat sich nie zuvor so sehr auf die Expertise von Wissenschaftlern berufen wie in der Corona-Pandemie. Es werden jedoch fast ausschließlich solche Wissenschaftler gehört, deren Gutachten oder Ratschläge den bereits getroffenen politischen Beschlüssen und damit dem Mainstream des harten Krisenmanagements entsprechen. „Hört auf die Wissenschaft“, lautet die naive Losung der Klimabewegung, weil unterstellt wird, es gebe Einigkeit unter Wissenschaftlern und Wissenschaft produziere Wahrheiten. Bei der Bekämpfung des Sars-CoV-2-Virus wurde aus diesem Slogan Realität. Ehrlicherweise müsste es allerdings „Hört auf jene Wissenschaftler, die der Politik nach dem Mund reden“ heißen.
Zu Idolen avanciert
Während die aus früheren Zeiten stammenden Vorbehalte gegenüber Erzeugnissen aus den wissenschaftlichen Laboratorien wie gentechnisch veränderte Lebensmittel oder Pflanzen weiter existieren, werden die neuen mRNA- und DNA-basierten Vektorimpfstoffe, die direkt in den Körper eingebracht werden und dort wirken, vielfach kritiklos betrachtet und beworben. Die Widersprüche ergeben sich durch den Zeitpunkt, wann die Produkte marktreif wurden. Als Wissenschaftlern noch mit Misstrauen begegnet wurde, färbten die Bedenken auf deren Erzeugnisse ab. Weil Wissenschaftler inzwischen zu Idolen avanciert sind, werden ihre Impfstoffe gegen das Sars-CoV-2-Virus gefeiert, ohne angemessen zu erwähnen, dass es sich um gentherapeutische Materialien und um komplett neuartige Impfmechanismen handelt, bei denen Daten über Langzeitfolgen fehlen.
Ein grünes Zertifikat soll in der EU eingeführt werden. In diesem wird eine überstandene Infektion mit dem Sars-CoV-2-Virus, eine Impfung gegen das Sars-CoV-2-Virus oder ein aktueller negativer Test auf das Sars-CoV-2-Virus gespeichert. Frei nach South Dakotas Gouverneurin Kristi Noem halte ich diesen so genannten grünen Pass für eine der uneuropäischsten Ideen überhaupt.
Die Gründe liegen auf der Hand. Grundrechte sind keine Privilegien, die an Konditionen geknüpft werden. Es ist nicht der Staat, der Freiheitsrechte gewährt, etwa für konformes und scheinbar vernünftiges Verhalten (Testung, Impfung). Dass in Zukunft nur noch Genesenen, Getesteten oder Geimpften der Grenzübertritt oder Zutritt zum Einzelhandel, zur Gastronomie, zu Dienstleistungs-, Sport- oder Kultureinrichtungen gestattet wird, ist ein mögliches Szenario. Ein Mensch, der mehr als bloß physisch existieren möchte, also seine Handlungsfreiheit oder Freizügigkeit selbstverständlich leben will, wird in erheblicher Weise diskriminiert, wenn er eine der drei Voraussetzungen erfüllen müsste, um eine Staatsgrenze überqueren, einen Cappuccino in einem Café trinken oder einen Film im Kino sehen zu dürfen. Es droht die Offenlegungspflicht sensibler Gesundheitsdaten bei nahezu jeder Aktivität.
In diesem Zusammenhang wird oft erwähnt, die Einreise in einige Länder hänge seit Langem von einer Gelbfieber-Impfung ab. Dies werde hingenommen, ohne dass von unzulässiger Benachteiligung gesprochen werde. Der Vergleich hinkt jedoch: Es macht einen großen Unterschied, ob jemand, der sich nicht gegen Gelbfieber impfen lassen möchte, dadurch lediglich in wenige Staaten dieser Welt nicht einreisen darf, oder ob jemand, der sich nicht auf das Sars-CoV-2-Virus testen oder nicht gegen das Sars-CoV-2-Virus impfen lassen möchte, die gesellschaftliche Teilhabe im eigenen Land bzw. in der EU verwehrt wird.
Verarbeitung sensibler Gesundheitsdaten
Bei einem Test oder einer Impfung wird die körperliche Unversehrtheit verletzt. Daher ist es allemal legitim, beides abzulehnen. Ein klassischer Impfausweis enthält bloß den Nachweis jener Impfungen, die der Besitzer erhalten hat. Im grünen Zertifikat werden auch ärztliche Befunde wie z. B. eine überstandene Infektion einbezogen. Die Verarbeitung solch sensibler Gesundheitsdaten ist nach der Datenschutzgrundverordnung der EU untersagt, solange die betroffene Person nicht in die Verarbeitung für einen oder mehrere festgelegte Zwecke eingewilligt hat.
Beträchtliche Teile der deutschen Gesellschaft inszenieren sich gern als diskriminierungssensibel. Und in der Tat wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche Benachteiligungen sukzessive abgebaut. Doch was geschieht, wenn die Diskriminierung Gruppen trifft, die unter dem Stichwort »Cancel Culture« für ihre vermeintlich unmodernen Positionen von Ausschluss bedroht sind? Also jene, die gegen freiheitseinschränkende Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen demonstrieren, und jene, die ihre Grundrechte ohne Tests und Impfung leben wollen. Die Antwort lautet, dass die Diskriminierung von der Mehrheit schlechterdings nicht mehr als problematisch wahrgenommen wird.
Alte Gewissheiten lösen sich immer schneller auf. Eine liberale Vorstellung vom Staat, der die Menschen in Ruhe, aber nicht im Stich lässt, wirkt heutzutage überholt und ist einem Kontrollrausch des Staates gewichen, der das Verhalten seiner Bürger andauernd reguliert und ständig gesundheitsbezogene Nachweise verlangt. Es droht eine unfreie und gleichförmige Gesellschaft.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Elino Ernst ist ein Pseudonym. Die sich dahinter verbergende Person (m/w/d) hat eine politiknahe berufliche Tätigkeit. Deshalb vermeidet sie ihren Klarnamen an dieser Stelle.
Text: Gast
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