Nach RKI-Chef Lothar Wieler hat sich nun offenbar auch Bundeskanzlerin Angela Merkel verplappert, was die Pläne für eine weitere Senkung der Inzidenz und damit eine Verlängerung der Corona-Maßnahmen angeht. Wieler sprach heute auf der Bundespressekonferenz von einer Inzidenz von 10, die für eine gute Kontrolle nötig sei. Wie das die sogenannte Null-Covid-Strategie vorsieht, die auch Berater von Merkel vertreten. In den Medien wurde Wielers bemerkenswerte Aussage kaum aufgegriffen. Aber Marietta Slomka sprach sie heute Abend zumindest indirekt an in ihrem Interview mit der Kanzlerin für ZDF heute. Sie fragte sie, ob es nicht sein könnte, dass für die Wiedereröffnungen der Inzidenzwert später weiter gesenkt werde. Merkel hatte ja früher von einer Inzidenz von 50 als Grenze gesprochen. Nachdem diese nun in Sichtweite ist, ist nun von einer Inzidenz von 35 die Rede. Ob der Wert wirklich nicht weiter gesenkt werde, und dann bald von einer Inzidenz von 25 oder 10 die Rede sein werde, wollte Slomka wissen. Wer nun ein klares Nein von Merkel erwartete, wurde enttäuscht. Nach einer Weile sagte sie: „Lassen wir die 35, es kommt keine neue Zahl jetzt dazu“. Ob JETZT eine neue Zahl dazu komme, wurde sie aber gar nicht gefragt, sondern ob dies in naher Zukunft geschehen könne. Geschickt umfährt die Kanzlerin hier also eine Antwort. Und ihre weiteren Ausführungen klingen eher wie eine Bestätigung solcher Befürchtungen.
Ein findiger Leser hat das sofort herausgehört und mir den wichtigsten Teil ihrer Antwort transkribiert. Auch wenn es schwer fällt, sich durchzukämpfen, sollten Sie es tun. Das sagte die Kanzlerin:
.. „wir haben dann drei Stränge im Grunde noch – Schulen in den höheren Jahrgängen, Berufsschulen, Universitäten – wir haben die privaten Kontakte als zweiten Strang, mit wie vielen Menschen darf ich mich treffen? Und wir haben einen dritten Strang, Kultureinrichtungen, Kinos, Gruppensport, Theater, Restaurants und eines Tages Hotels – und dann müssen wir politisch entscheiden, welche Öffnungsschritte aus welchem Strang wollen wir jetzt als nächste und darüber werden wir beim nächsten Mal auch diskutieren, so entwickelt sich eine Öffnungsstrategie und man kann sagen, immer wenn wir stabil bei 35 bleiben 14 Tage lang und der vorherige Öffnungsschritt nicht zu einem Anstieg der Fallzahlen geführt hat, kann man den nächsten Schritt gehen.“
Der Leser kommentierte das wie folgt: „Wo ist der erste Schritt? Sie kann es noch, Merkel, lupenreiner Politsprech, analysiert drückt sie mehr aus als sie vermutlich wollte.“
In der Tat.
Selbstkritik? Nur in kosmetischer Dosierung.
Bemerkenswert ist, dass Merkel erneut von einer „politischen Entscheidung“ spricht.
Dass die Hotels „eines Tages“ wieder geöffnet werden sollen, klingt nicht so, als sei der Zeitpunkt absehbar. Hat Merkel hier tatsächlich ebenso wie Wieler einen weitaus tieferen Einblick in Pläne für eine Verlängerung des Lockdowns gegeben als beabsichtigt? Was da als Taktik durchscheint, erinnert ein wenig an den Esel und die Karotte – die immer weiter von ihm entfernt wird, je weiter er sich bewegt.
„Die Menschen fühlen sich eingesperrt und die Bundeskanzlerin und die Minister haben die Zusage gebrochen, einen Perspektivplan vorzulegen, mit dem die Menschen die Planbarkeit ihres Lebens zurückerhalten. Lange hält diese Republik das nicht mehr aus“, sagte Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) in einem am Freitag veröffentlichten Podcast: „Dass die 50 jetzt keine Rolle mehr spielt, wo wir uns ihr nähern, treibt mich in die Verzweiflung. Entweder sie hatte eine Bedeutung oder sie war nur als Placebo gedacht. Auch die Kanzlerin ist nach 16 Jahren Regentschaft keine Monarchin. Auch für sie gilt das Infektionsschutzgesetz.“
Ansehen können Sie sich das Interview hier. Die beschriebene Szene ist ab Zeitmarker 2.00 zu finden.
Bild: ZDF/Screenshot
Text: br