Der frühere Gesundheitsamtschef und Epidemiologe Dr. Friedrich Pürner ist für mich ein Leuchtturm in der Corona-Zeit. Eine nachdenkliche, kluge und vor allem kompetente Stimme, die sich erhebt gegen den Fanatismus von Hardlinern wie Karl Lauterbach und seinem Fan-Club. Die Diskriminierung von Ungeimpften bezeichnete er als „barbarisch“. Pürner wurde für seinen nüchternen Blick strafversetzt. Dafür, dass er seinem Gewissen folgte und das tat, was man Generationen von jungen Westdeutschen aufgetragen hatte und was heute die meisten sträflich vernachlässigen: Im Zweifelsfall den Mund aufmachen, wenn sie den Verdacht haben, dass Macht missbräuchlich verwendet wird.
Pürner, immer noch im Staatsdienst, aber jetzt an nachgeordneter Stelle tätig, lässt sich weiter nicht den Mund verbieten. Und setzt auf Twitter immer wieder Akzente. Sein jüngster geht in Richtung Bundesgesundheitsminister: „Impfarzt @Karl_Lauterbach! Vor jeder Impfung muss eine Aufklärung über mögliche Risiken+Nebenwirkungen erfolgen. Aufklärung ist mit größter Sorgfalt durchzuführen. KL macht das nicht. Seine Aussage „nebenwirkungsfreie Impfung“ belegt dies. Er informiert(e) seine Patienten falsch.“
Impfarzt @Karl_Lauterbach!
Vor jeder Impfung muss eine Aufklärung über mögliche Risiken+Nebenwirkungen erfolgen. Aufklärung ist mit größter Sorgfalt durchzuführen. KL macht das nicht. Seine Aussage „nebenwirkungsfreie Impfung“ belegt dies. Er informiert(e) seine Patienten falsch. pic.twitter.com/P7Zn4nHqlO— Dr. Friedrich Pürner, MPH (@DrPuerner) June 19, 2022
Lauterbach hatte nicht nur auf Twitter gefragt, „weshalb eine Minderheit der Gesellschaft eine nebenwirkungsfreie Impfung nicht will, obwohl sie gratis ist und ihr Leben und das vieler anderer retten kann“. In der ARD bei „Anne Will“ legte er noch nach und sagte, man müsse immer wieder vermitteln: „Die Impfungen sind halt mehr oder weniger nebenwirkungsfrei. Das muss immer wieder gesagt werden“.
Auf Nachfrage von mir führte Pürner seine Kritik noch einmal aus: „Im Prinzip hat Lauterbach ja alle auf Twitter damit falsch informiert. Da seine Aussage vom 14. August war und er bereits am 15. August wieder mediengerecht Impfarzt spielte, gehe ich davon aus, dass er seine Patienten auch so aufgeklärt hat, wie in dem Tweet. Und nebenwirkungsfrei ist die Impfung eben nicht. Also hat er entweder gelogen oder falsch aufgeklärt“.
Nach Berichten auch auf meiner Seite und öffentlichem Druck bis hin zur Forderung nach Entzug der Approbation machte Lauterbach inzwischen einen Rückzieher – allerdings nicht, ohne seine Kritiker wie üblich zu diffamieren. Er räumt jetzt ein, dass es „sehr schwere Nebenwirkungen“ gebe, die in „sehr seltenen Fällen“ auch tödlich sein könnten. Das löste im Netz heftige Diskussionen aus. Anhänger und Kritiker zitieren ihn teils unvollständig und interpretieren seine Aussagen ganz entgegengesetzt.
Wörtlich sagte Lauterbach: „Alles in allem sind diese Nebenwirkungen sehr selten, insbesondere die schweren Nebenwirkungen. Es gibt auch keine Impfungen, die jemals so gut in Bezug auf ihre Nebenwirkungen untersucht worden sind wie die Covid-Impfungen“.
Kritiker halten diese Aussage für unsinnig, da bei den Covid-Impfungen Langzeiterfahrungen fehlen, wie sie sonst bei allen Impfstoffen vorgeschrieben sind. Befürworter behaupten, man habe diese Langzeiterfahrungen simulieren können, Kritiker halten diese Behauptung für Hütchenspielerei und machen geltend, Zeit könne man nicht simulieren.
Weiter sagte Lauterbach: „Das Risiko, durch die Impfung zu sterben, ist sehr gering. Es gibt also sehr schwere Nebenwirkungen. Die kommen manchmal vor, zum Beispiel Thrombosen im Gehirn, die können tödlich verlaufen, aber das ist sehr selten. Weniger als einer von 25.000 entwickelt überhaupt die Komplikationen. Und bei einem kleinen Teil ist diese Komplikation tödlich. Die Wahrscheinlichkeit, an Covid zu versterben, ist viel, viel, viel höher.“ Hier führt der Minister nicht aus, in welchem Alter die Risiken-Nutzen-Abrechnung wie ausfällt.
Der Minister fügte noch hinzu: „Als Post-Vac-Syndrom bezeichnet man das Syndrom, wo nach der Impfung die Menschen sich nicht so gut konzentrieren können wie vorher oder wo also Nebenwirkungen vorkommen. So ähnlich wie bei Post-Covid. Allerdings seltener, viel seltener und auch weniger schwer. Das muss ernst genommen werden, das wird untersucht, das kann man nicht unter den Teppich kehren. Es ist aber nicht vergleichbar mit der Schwere der Erkrankung von Post-Covid.“ Kritiker werfen Lauterbachs Ministerium bzw. dem ihm unterstellten Paul-Ehrlich-Institut aber genau das vor – dass es diese Symptome unter den Teppich kehrt. Selbst im „Spiegel“, der sonst stramm auf Lauterbach-Linie ist, wurde dieser Vorwurf erhoben.
Professor Dr. med. Bernhard Schieffer, Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum in Marburg, kontert Lauterbachs Aussage in der Berliner Zeitung so: „Leider decken sich ihre Äußerungen zu Schweregrad von Post-Vac, der geringer als Long-Covid sein soll, nicht mit unseren klinischen Erfahrungen. Ich würde empfehlen, solche Äußerungen zurückhaltend zu tätigen, da Betroffene jedweder Erkrankungsentität vor den Kopf gestoßen werden“.
Auch die nächste Aussage von Lauterbach halten Kritiker für Desinformation: „Also wenn man wirklich glaubt, dass man so ein Beschwerdebild hat, dann sollte man sich an seinen Hausarzt wenden. Der meldet die Beschwerden dann auch an das Paul-Ehrlich-Institut, sodass wir dort einen Überblick bekommen. Und darüber hinaus wird dann die Behandlung mit dem Arzt abgesprochen.“ Genau das geschieht nach Ansicht kritischer Ärzte in sehr vielen Fällen eben nicht – auch weil das Honorarsystem der Ärzte keinerlei Anreiz für solche Meldungen von Impfnebenwirkungen bietet, und Ärzte vielfach Angst haben, Nebenwirkungen zu melden, weil sei damit Gefahr liefen, als „Corona-Leugner“ oder „Impfgegner“ in Verruf zu geraten.
Ex-Gesundheitsamtschef Pürner fühlt sich durch Lauterbachs taktischen Rückzug, dass es eben doch Impfnebenwirkungen gebe, bestätigt in seiner heftigen Kritik: „Wenn er das nun einräumt, dann muss er sich meinen Vorwurf aber auch gefallen lassen…´“
Bild: Boris Reitschuster
Text: br