Krank durch Lockdown? Die Pandemie der Zivilisationskrankheiten und das coronabedingte Sportverbot: eine unheilvolle Allianz.

Ein Gastbeitrag von Dr. Sabine Dettling

„Rettung Corona-Impfstoff“, jubelt die Deutsche Apotheker-Zeitung. Das Handelsblatt sieht mit „den ersten Impfungen … die größte Rettungsaktion des Jahrhunderts“ anlaufen. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann verkündet in einer Sitzung des Landtages sehr energisch: „Die Bevölkerung wird durchgeimpft, und dann ist es rum mit dieser Pandemie!“ Bis dahin, so klingt es aus diesen Zeilen, werden Anordnungen und Verbote den Alltag der Menschen bestimmen.

Seit über 300 Tagen ergreift die Politik verschiedenste „Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus“ zum „Gesundheitsschutz der Bürgerinnen und Bürger“.

Fraglich ist, ob über all diesen Maßnahmen tatsächlich das hohe Gut der Gesundheit der Bevölkerung steht. Anlass zu Bedenken gibt nämlich die Tatsache, dass die Politik ganz in der Tradition Karl Valentins den gesundheitlichen Wert des Amateur-, Freizeit- und Breitensports nicht einmal ignoriert. Wie schon im Frühjahr ist seit Anfang November der „Freizeit- und Amateursportbetrieb auf und in allen öffentlichen und privaten Sportanlagen, Schwimm- und Spaßbädern … eingestellt. Auch Fitnessstudios und ähnliche Einrichtungen müssen geschlossen bleiben.“ Erlaubt ist lediglich „Individualsport sowie Sport zu zweit oder mit den Angehörigen des eigenen Hausstands“.

Das ist eine Verordnung, die einem Verbot des Sporttreibens gleichkommt. Doch wer Sporttreiben verbietet, gefährdet die Gesundheit der Menschen. Das Immunsystem lebt auch davon, wie der Arzt und ehemalige Berater der österreichischen Bundesregierung Martin Sprenger im Corona-Quartett auf ServusTV betonte, „dass wir uns bewegen und wohlfühlen“. Schon im Frühjahr hatte der Bonner Virologie-Professor Hendrik Streeck bemängelt, dass wir alles daran setzten, „um unserem Immunsystem zu schaden: Wir gehen weniger an die Sonne, bewegen uns kaum noch, ernähren uns womöglich auch noch schlecht. Wir müssen den Leuten doch die Möglichkeit geben, sich fit zu halten, gesund zu bleiben und ihr Immunsystem zu stärken.“

Tatsächlich können bestimmte Formen sportlicher Betätigung die Entstehung zivilisations- und altersbedingter Erkrankungen hinauszögern oder verhindern. Menschen, die ein Leben lang viel Ausdauersport getrieben haben und auch im Alter sportlich aktiv sind, verfügen über eine effektivere Immunantwort. Sie sind weniger anfällig für chronische Entzündungen, für Autoimmun- und Infektionskrankheiten.

Die Gefahr ist sehr groß, dass aus den Lockdown-Couch-Potatoes von heute die von Bewegung und Sport entwöhnten „Corona-Risikopatienten“ von morgen werden. Schon jetzt ersetzen Kinder und Jugendliche das aktive Sporttreiben im Verein und auf Freizeitspielflächen wie Bolzplätzen durch passiven Medienkonsum. „‘Hochgerechnet auf die Bevölkerung ist bei fast 700.000 Kindern und Jugendlichen das Gaming riskant oder pathologisch‘, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. Der Corona-Lockdown mit Homeschooling, Kontaktverbot zu Freunden und viel Freizeit scheint diese Entwicklung verstärkt zu haben. Allein die Spielzeit am Computer ist im Vergleich zum Herbst 2019 um 75 Prozent gestiegen.“

Zwar gestattet die Bundesregierung Sport in Eigenregie, zu zweit oder mit Angehörigen, die mit im Haus leben, nach wie vor.
Individuelles Sporttreiben setzt aber sportliche Handlungskompetenz und Eigenmotivation voraus, die (zu) viele Menschen nicht haben, vor allem Kinder nicht, und nur eine kleine Minderheit dürfte mit einem Sportlehrer, einer Übungsleiterin, einer Profisportlerin oder einem Personal Trainer zusammenleben, der darüber hinaus auch gewillt ist, die Expertise im familiären Umfeld einzusetzen.

Johann M. zum Beispiel, ein rüstiger Witwer in den Achtzigern, der Ende 2019 einen schweren Herzinfarkt erlitten hatte und mit viel Mühe wieder auf die Beine kam, sieht sich aktuell zur Sportpassivität gezwungen. „Jetzt hat man uns“, berichtet er zwischen Entrüstung und Verzweiflung pendelnd, „den Koronarsport zugesperrt, wie im Frühjahr auch schon.“ Sein Herz hängt im wahrsten Sinn des Wortspiels an diesem Angebot. Ihm fehle die körperliche Betätigung, der Kontakt mit Leidensgenossen, die wöchentliche Vergewisserung, dass soweit alles in Ordnung ist mit seinem vorgeschädigten Herzen. Warum er nicht auf eigene Faust sein Sportprogramm absolviere? „Nein, das trau‘ ich mich nicht“, sagt er, „ich weiß ja auch gar nicht, was genau ich machen darf und wie.“ Auch die 76-jährige Heide B. vermisst die regelmäßigen Übungsabende für Diabetiker-Sportler. Die Typ-2-Diabetikerin übt harsche Kritik an der „Corona-Politik“: „Herr Spahn und Kollegen betonen ständig, dass sie uns schützen wollen, aber was ist gut daran, uns einfach den Sport zu verbieten?“

Nun ist längst bekannt, dass das Krankheitspanorama der modernen westlichen Welt in einer Virus-Pandemie als Brandbeschleuniger fungiert. Wer übergewichtig oder adipös ist, wer raucht, wer lungenkrank ist, wer an Herzinsuffizienz, Herz- und Gefäßerkrankungen, bösartigen Neubildungen, Bluthochdruck und Diabetes leidet, trägt ein signifikant höheres Risiko, an Covid-19 schwer zu erkranken oder zu versterben.
Die Coronavirus-Pandemie scheint vor diesem Hintergrund ein nachgelagertes Problem weit geringeren Ausmaßes zu sein. Zuvorderst grassiert eine Pandemie der Zivilisationskrankheiten, ausgelöst durch Bewegungsmangel, Suchtmittelkonsum, Mangel- und Fehlernährung. Die Zahlen sprechen Bände. Im Jahr 2017 waren in Deutschland rund 43 Prozent der erwachsenen Frauen und 62 Prozent der Männer übergewichtig oder adipös. Schätzungsweise acht Millionen Menschen leiden an Typ-2-Diabetes, und immer mehr stark übergewichtige Kinder und Jugendliche sind von dieser Erkrankung betroffen. Die Zahl gesetzlich Krankenversicherter mit Bluthochdruck ist von 2009 bis 2018 von knapp 17 Millionen auf 19 Millionen gestiegen.

Seit über 300 Tagen bohrt das Corona-Virus nun schon den Finger in die Wunde dieser zivilisationserkrankten Gesellschaft – und kaum jemand nimmt Notiz davon. So kommt auch das Quasi-Sportverbot im öffentlichen Diskurs nicht über die Rolle des Komparsen hinaus. Schlimmer noch: Die Möglichkeit der Stärkung des Immunsystems – vielmehr: das Immunsystem an sich – scheint seit über 300 Tagen als Verschwörungserzählung zu gelten und wird im politischen, medizinischen wie medialen öffentlich-rechtlichen Diskurs negiert und diskreditiert. Ein dichter Dschungel aus Ammenmärchen, Mythen und Halbwahrheiten, sorgsam von verschiedensten Interessengruppen gepflegt, versperrt mehr und mehr die Sicht darauf, was „gut“ und „gesund“ ist und was nicht. „Gesundheit“, schrieb Elisabeth Beck-Gernsheim einmal, „ist das Zauberwort, um Zustimmung zu gewinnen – in Medien und Politik, beim Mann und der Frau auf der Straße, Gesundheit … schiebt Widerstände beiseite, bringt öffentliche Unterstützung und Gelder“. Gesundheit ist Definitionssache. So verspricht die „größte Rettungsaktion des Jahrhunderts“ auf den ersten Blick Gesundheit für alle. „Ärmel hoch, ein kleiner Piks in den Oberarm, dann ist es schon vorbei.“ Auf den zweiten Blick bringt der kleine Piks große monetäre Erfolge für diejenigen, die die Mittel bereitstellen. „Pfizer and BioNTech could make $13bn from coronavirus vaccine“, titelte im November The Guardian. Das sind rund 10,7 Milliarden Euro.

Kindern und Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren bringt der Zwang zum sportbefreiten Warten auf den viel beworbenen rettenden Piks jedenfalls nichts Gutes. Der Deutsche Leichtathletik-Verband sah schon Ende November 2020 das „anhaltende Sportverbot“ mit Sorge; die gegenwärtige Infektionsschutzpolitik ignoriere „die eminent wichtige gesundheitsfördernde Wirkung des Freizeit- und Gesundheitssports“. So bat der Verband die politisch Verantwortlichen zu prüfen, ob die zeitnahe Öffnung des Breiten- und Freizeitsports möglich wäre. Eine „mittelschwere Katastrophe“ sei auch das Zusperren von Schwimmbädern, sagt die ehemalige Weltklasse-Schwimmerin Franziska van Almsick, denn eine ganze Generation von Kindern werde extrem schlecht oder gar nicht schwimmen können. Schon vor dem Quasi-Sportverbot klagte die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG): „Fast 60 Prozent der Zehnjährigen sind keine sicheren Schwimmer.“ Doch wer nicht schwimmen kann, läuft Gefahr zu ertrinken.

Wer monatelang auf seinen Sport verzichten muss und Bewegung durch Frustessen auf der Couch ersetzt, läuft Gefahr, übergewichtig oder adipös zu werden. Wer übergewichtig oder adipös ist, läuft Gefahr, schwer an Covid-19 zu erkranken oder gar zu versterben. So schließt sich der Kreis.


 

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Sabine Dettling ist promovierte Sportwissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Freizeit- und Gesundheitssport. Neben ihrer Arbeit als freie Journalistin und Autorin ist sie in der öffentlichen Verwaltung im Bereich Sportentwicklung beschäftigt.Weitere Informationen finden Sie auf ihrer Webseite sabinedettling.de.

Bild: mitifoto/Shutterstock
Text: Gast
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