Von Matthias Heitmann
Eines kann man über den Auftritt der Parteien zum traditionellen Politischen Aschermittwoch auf jeden Fall sagen: Er war erschütternd ehrlich. Und gerade das machte ihn so unangenehm niederschmetternd. Selten war am Aschermittwoch alles so grundlegend vorbei wie an diesem. Als die Parteien 2016 anlässlich eines schweren Zugunglücks in Bad Aibling tags zuvor den Politischen Aschermittwoch kurzfristig absagten, fühlte sich das noch wesentlich besser an. Dieses Jahr aber wollten die Parteien – auch aufgrund des anstehenden Bundestagswahlkampfes – die Möglichkeit des rhetorischen und emotionalen Warmlaufens nicht auslassen. Wer die Live-Streams der aus Gründen der Corona-Konformität hauptsächlich virtuellen Veranstaltungen betrachtete, könnte zweifeln, ob dies die richtige Entscheidung gewesen sei.
Gäbe es ein „Handbuch des ewigen Verlierers“, ein zentraler Eintrag würde lauten: „Wenn du schon nichts zu sagen hast, dann kleide dich wenigstens miserabel, denn dann arbeitet sich die Öffentlichkeit nur an deinem schlechten Geschmack ab und nicht an deiner Inhaltslosigkeit.“ Vielleicht ist dieses Handbuch aber doch bereits geschrieben worden – oder aber die Parteien haben kollektiv an einem Feldversuch teilgenommen, um die Verwertbarkeit dieses Ratschlags zu testen. Man könnte sagen: Test bestanden. Denn die analogen und digitalen Kulissen, mit denen die Parteien versuchten, das Fehlen der traditionellen bayerischen Bierzelt-Romantik zu überspielen, waren so erbärmlich, dass sie den Großteil der Aufmerksamkeit aufsaugten – und so die Erwartungen an die Performenden senkten.
Markus Söders Auftritt erinnerte an die klassische US-amerikanische Daily Soap im Bavaria Style – es fehlte eigentlich nur das Sofa. Stattdessen saß er im Trachtenjanker vor einer Wohnzimmerkulisse auf einer Holzbank mit Brotzeit, Brezelkorb und Bierkrug und plauderte – zuweilen unter Applaus der hinter ihm eingeblendeten Parteimitglieder dahoam – über Corona („Durchhalten bitte!“), Klima und die Kanzlerin. Was einst als derber und unterhaltsamer rhetorischer Schlagabtausch Zelte zum Bersten und politische Gegner zum Kochen brachte, kommt heuer ohne Rhetorik und ohne Abtausch daher: Was bleibt, ist ein Schlag – ins Leere, ins Wasser oder sonst wohin, wo er nichts ausrichtet. Franz-Josef Strauß, ehedem ein Könner der politischen Zuspitzung, hätte einen solchen „Gig“ nicht einmal als Vorgruppe für den Soundcheck gelten lassen. Aber gerade das machte den Politischen Aschermittwoch so brutal ehrlich. Im Vergleich zu Strauß war Söder wie ein zarter Windhauch, nur öder.
Dass aber selbst ein Windhauch noch vergleichsweise belebend wirken kann, bewies Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Ihn auf einen Politischen Aschermittwoch zu schicken ist ähnlich erfolgversprechend, wie wenn ich als Freiberufler im Kunstbereich versuche, Corona-Hilfen zu erhalten. Es gibt Dinge, die kann man gleich seinlassen. Künstliches Herumfuchteln mit den Armen hätte bei mir dieselbe Reaktion erzeugt wie bei Scholz: Mitleid. Immerhin, auch Scholz war ehrlich: Er wolle lieber „ernsthaft sein“ als große Töne spucken. Der Mann aus dem Norden schickte sich an, als hochwirksamer Impfstoff gegen Ausgelassenheit zugelassen zu werden. Wer am Aschermittwoch staatstragend auftritt, offenbart ein Gespür für menschliche Nähe und Wärme, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Man darf auf den Wahlkampf mit Olaf gespannt sein: Wo er auftritt, können Ausgangssperren getrost gelockert werden, die Ansteckungsgefahr liegt im Frostbereich.
Dahoam blieben auch die grünen Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck und inszenierten sich stilecht vor der Retro-Wohnzimmer-Kulisse, auf weißen Sesseln und bei Wasser, ohne Brot. Ganz wie in einem kleinen Einfamilienhaus, scherzte Habeck. Gesittet, im grünen Biedermeier-Look beschworen die beiden, nicht draufhauen zu wollen. Wie auch? Zum Draufhauen braucht es eigene Überzeugungen sowie zur Gegenwehr entschlossene Gegner. In Ermangelung von beidem wäre nur eine vegane Selbstzerfleischung denkbar gewesen. Vielleicht wurde deshalb Anton Hofreiter digital so in Szene gesetzt, als habe man ihn auf das Solardach desselben Einfamilienhauses verbannt. Aber auch dessen Haare flatterten nicht im Wind, denn es gab keinen, gemäß einem weiteren Lehrsatz aus dem oben genannten, nicht existierenden Handbuch: „Wer rückwärtsgeht, verwandelt Gegenwind in Rückenwind.“ Entfernt an den Politischen Aschermittwoch erinnerte allenfalls Hofreiters Akzent. Als er aber Söder vorwarf, dieser sei ein Saboteur grüner Politik, den man nicht brauche, zuckte ich vor lauter Schreck so heftig mit den Schultern, dass ich mir die linke fast auskugelte.
Der Auftritt der AfD erinnerte noch am ehesten an den Politischen Stammtisch Straußscher Art – und gleichzeitig erinnerte er mich an das, was ich schon immer daran verabscheute: Kein Wunder, gehört doch die Sehnsucht nach einer besser erträumten Vergangenheit zum Wesenskern der Deutschalternativen. Es gab sogar ein paar Parteikomparsen, die artig klatschten, wann immer es notwendig war. Auch die derbe Wortwahl so mancher Anschuldigung ließ heimelige Erinnerungen an alte Zeiten aufkommen, als am Aschermittwoch noch ordentlich auf die Exkremente gehauen wurde. Dass ausgerechnet der AfD dies gelang, ist angesichts der politischen Konkurrenz nicht verwunderlich. Bedenkt man aber, dass diese Partei sich selbst als eine Art Flüchtlingslager für politisch entwurzelte Heimatlose geriert, ist es dennoch bemerkenswert, wie kampflos ihr von den anderen Parteien Stammtisch, Zelt und Tresen samt Lufthoheit überlassen werden.
Am wenigsten verändert hatte sich beim durchcoronialisierten Aschermittwoch die FDP. Kein Wunder: Abstandhalten von den Menschen ist schon seit langem die dort vorherrschende Fehlinterpretation von Liberalismus und Freiheit. Vor der Fensterfront eines Hochhauses, den Blick über die Münchner Innenstadt verstellend, taten die Redner wenig, um diese Entrücktheit zu lindnern. Auch bei den Linken wurde der Politische Aschermittwoch zu einer Darbietung erschütternder Dumpfheit – ganz so, als habe man den Protagonisten welchen Geschlechts auch immer das Windrad abgestellt. Offenbar saßen sie in genau der Ecke des Passauer Oberhauses, in der auch sonst die dortige Ortsgruppe tagt. Lediglich der zugeschaltete Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, verlieh dem Ganzen einen etwas futuristischen, ach was sag ich, gegenwärtigen Anstrich.
Die interessanteste, aber zugleich auch erschütterndste Erkenntnis des diesjährigen Politischen Aschermittwoch lautet – und zwar entgegen der Aussage von Markus Söder: Das Virus ist nicht schuld! Die politische Sklerose hat lange zuvor eingesetzt, sie wird durch die Coronialisierung unseres Lebens nur beschleunigt und noch drastischer sichtbar. Deren Verewigung als mentaler Lockdown, der mit einer politischen und kulturellen Amnesie einhergeht, droht dafür zu sorgen, dass wir vergessen, dass das, was wir heute noch schemenhaft als „normal“ erinnern, schon damals nur eine armselig inhaltsleere Hülle dessen war, was man mal als „Debattenkultur“ bezeichnete. Hätte man Corona nicht, man müsste es erfinden, um zu erklären, warum der Straßenwahlkampf ausfällt.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Matthias Heitmann (Jahrgang 1971) ist freier Journalist, Buchautor und Kabarettist. Von ihm sind u.a. erschienen: „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (2015), „Zeitgeisterjagd spezial: Essays gegen enges Denken“ (2017) und „Schöne Aussichten. Die Welt anders sehen“ (2019). Zudem geistert er als „Zeitgeisterjäger FreiHeitmann“ mit eigenen Soloprogrammen über Kleinkunst- und Kabarettbühnen. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de. Sein Podcast „FreiHeitmanns Befreiungsschlag“ erscheint regelmäßig auf www.reitschuster.de.
Bild: SPÖ Presse und Kommunikation/Wikicommons/CC BY-SA 2.0
Text: Gast
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