Von Ekaterina Quehl
Bei meiner ersten Reise nach Deutschland in 1996 war ich sehr euphorisch. Neben der damals üblichen Konsumbegeisterung eines Jugendlichen aus den postsowjetischen 90ern mit Essensmarken und Second-Hand war ich auch wegen des Umgangs der Menschen miteinander sehr angetan. All die Wärme, Rücksicht, Freundlichkeit und der Respekt haben mich überwältigt. Aber auch Freiheit und Souveränität. Es war, als ob ich erst mit 19 erfahren habe, was ein würdiges Miteinander eigentlich heißt.
In zwei Wochen Aufenthalt konnte ich nicht viel vom Leben in Deutschland erfahren und meine Eindrücke waren sicher subjektiv, aber für die Einschätzung der damaligen gesellschaftlichen Maßstäbe und der allgemeinen Stimmung hat es gereicht. Meine weiteren Reisen nach Deutschland haben sie nur bestätigt. Das war für mich eine vollkommen andere Dimension meiner Wahrnehmung als freier Mensch. Denn im Russland der 90er Jahre etablierten sich demokratische Werte in der Gesellschaft ungeregelt, ja häufig chaotisch, und mussten erst als solche verinnerlicht werden. Nach 70 Jahren sowjetischer Diktatur war das für viele sicherlich nicht einfach.
Vor ein paar Wochen war ich nach einer zweieinhalbjährigen Pause in St. Petersburg. Ich empfand geradezu die gleiche Euphorie wie damals, 1996, in Deutschland. Freiheit, Entspannung und aggressionsfreies, angstfreies Miteinander zu fühlen ist etwas, was mir besonders in diesen 18 Monaten der Pandemie in Deutschland gefehlt hat und immer noch fehlt.
In Russland ist Corona längst Teil des Lebens geworden und ist bei weitem – trotz der Einführung der Impfpflicht in bestimmten Berufen und trotz der vielen Kranken – kein dominierendes Thema in der Gesellschaft mehr. So viel Freundlichkeit und Lockerheit habe ich schon lange nicht erlebt. Wenn ich meinen Freunden und Bekannten erzähle, dass in Deutschland Schüler sogar im Sport-Unterricht und auf dem Schulhof Masken tragen müssen, dass Menschen in den Genuss vieler alltäglicher Aktivitäten wie etwa eines Besuchs im Fitness-Center oder in einem Restaurant nur dann kommen dürfen, wenn sie getestet, geimpft oder genesen sind, dann staunen sie nur. Allerdings wird niemand aggressiv gegenüber Deutschen, niemand schimpft sie aus oder beleidigt sie deshalb. Ein paar Bekannte sagten sogar, dass es vielleicht der bessere Weg im Umgang mit Corona wäre, der sich aber für Russen nicht eigne, weil sie den ohnehin nicht gehen würden.
In Putins Russland herrscht seit langem in vielen Bereichen Rückkehr zum Autoritären und ich würde mein Heimatland nicht als Land einschätzen, das demokratische Werte wirklich lebt. Dennoch frage ich mich schon lange, wie es sein kann, dass ich mich in dieser Zeit dort viel freier fühle als im heutigen Deutschland.
Wie kann es sein, dass man sich in dem Land, in dem Regime-Kritiker verhaftet oder vergiftet werden, in dem man Portraits von Stalin in beinahe jeder Bücherei kaufen kann, freier fühlt als im ‚besten Deutschland aller Zeiten‘? Dieses Phänomen habe ich schon häufig mit meiner Familie und meinen Freunden besprochen – sie empfinden es genauso. Und meinen, es hänge mit der tiefen Überzeugung der Menschen in Russland zusammen, persönliche Freiheiten seien niemals mit Gehorsam austauschbar. Staatliche Regeln sind das eine und persönliche Freiheiten das andere. Die großen Überlebenskünste der Russen in einer Diktatur führen dazu, dass sie nicht alle Regeln des heutigen Regimes fleißig befolgen und diese für sich immer hinterfragen.
Besonders bemerkenswert finde ich das Gespür meiner Landsleute – und das habe ich natürlich auch – für das Absurde. Regeln hin oder her, sobald sie aber ins Absurde gehen – in Deutschland gibt es da aktuell unzählige –, lachen wir darüber und ziehen eine innere Bremse, was deren Einhaltung angeht. Und das weiß auch die russische Regierung. Deshalb geht sie nur bis zu einer gewissen Grenze, was staatliche Regulierung persönlicher Freiheiten angeht – aktuell betrifft es besonders die coronabedingten Einschränkungen. Und sie weiß ganz genau: Ab einer gewissen Grenze fangen Russen wieder an, ihre Überlebenskünste zum Erhalt persönlicher Freiheiten anzuwenden, selbst wenn dies Illegalität bedeutet.
Und so leben das Volk und die Regierung in einer stillschweigenden Übereinkunft, dass beide Seiten eine gewisse Grenze im Miteinander nicht überschreiten dürfen. Sicher ist es keine gute Lösung auf Dauer, sie sorgt aber für den Erhalt des gesunden Menschenverstands, welcher in Russland für ein entspanntes und nicht von Ängsten getriebenes Leben sorgt und im heutigen Deutschland eher als Störfaktor empfunden wird. Denn wenn man den gesunden Menschenverstand in Deutschland hat, landet man heute fast schon unausweichlich in einer Randgruppe, für die die Mehrheit so viele Namen hat: Coronaleugner, Querdenker, Schwurbler, Verschwörungstheoretiker und als universeller Oberbegriff für all diese Namen – Rechtsradikale.
Nach fast 18 Jahren meines Lebens in Deutschland zeigen meine Beobachtungen, dass gerade in diesen Zeiten viele hier einen einfachen Weg für sich gewählt haben. Ich denke, das sind bestimmte Abwehrmechanismen, die zur Geltung kommen, wenn man im tiefen Inneren versteht: Im System läuft etwas schief, aber ich bin Teil des Systems und kann es nicht verlassen. Diese Abwehrmechanismen sind nichts anderes, als zu gehorchen, sich hinzugeben. Und damit das ohne den Verlust der eigenen Würde funktioniert, setzt man den Gehorsam mit der Vernunft gleich. Menschen, die nicht gehorchen, sind somit nicht vernünftig, was in Zeiten der Pandemie eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt. Das würde die ganze Aggression in Deutschland gegenüber den Andersdenkenden erklären. Sie gefährden diese Abwehrmechanismen, die es leichter machen, im System zu überleben, wenn man keine Möglichkeit für sich sieht, es zu verlassen. Deshalb werden die aktuellen Ereignisse in Deutschland von der Mehrheit als das einzig Notwendige und einzig Mögliche wahrgenommen.
Faszinierend ist es für mich, wie tiefgreifend solche Mechanismen sind. Denn weder Reiseberichte von vor Ort mit Videos und Fotos, noch Nachrichten aus anderen Ländern können sie erschüttern. Ich frage mich, wie groß die Angst sein muss, an der eigenen Wahrnehmung zu scheitern, wenn man das, was man sieht, nicht sehen will, und das, was ist, verneint.
Das heutige Leben in Deutschland macht mir inzwischen wesentlich mehr Angst als Corona. Corona ist es nicht wert, persönliche Freiheiten und die eigene Würde zu verlieren. Deshalb zieht es mich aus Deutschland weg. In ein Land, in dem ein ganz normales angstfreies Leben möglich ist und in dem man über das Absurde lachen kann. Aktuell gibt es sehr viele davon und meine Heimat gehört dazu.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge von anderen Autoren geben immer deren Meinung wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de und studiert nebenberuflich Design und Journalismus.
Bild: fran_kie/ShotterstockText: eq
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